Bayern 2

     

Bayern 2 Salon Franz Kafka: Der Verschollene (4/12)

Franz Kafka: Der Verschollene | Bild: ARD

Donnerstag, 27.06.2024
20:05 bis 21:00 Uhr

  • Als Podcast verfügbar

BAYERN 2

Ein Teenager on the road to San Francisco: Karls Suche nach einem Job, Anstand und Freundschaft scheitert in diesem fiktiven Amerika, das Franz Kafka nie sah. Hörbuch-Podcast mit Peter Simonischek

Romanlesung mit Peter Simonischek in 12 Folgen auf Bayern 2, immer donnerstags im "Salon" um 20.05 Uhr vom 6. Juni bis 5. September
Als Hörbuch-Podcast verfügbar in der ARD Audiothek in 26 Folgen
https://www.ardaudiothek.de/sendung/kafka-der-verschollene/13420017/

"Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte." (Franz Kafka: Amerika)
Schon die ersten Sätze dieses Fragment gebliebenen Romans bergen abenteuerliches Potential: Ein junger Mann on the road, verstoßen wegen eines sexuellen und gesellschaftlichen Skandals, auf den jedoch die aufregendste Stadt des Globus, ja, die Neue Welt wartet! Aber auch das: Offenbar steckt in Kafkas Schilderung schon im zweiten Satz ein eklatanter Fehler: die Freiheitsstatue mit Schwert?

Sehnsucht nach Freiheit, Ferne und Gerechtigkeit
"Die Geschichte, die ich schreibe, und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt… Der Verschollene und handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika." (Franz Kafka)
Der Prager Schriftsteller (1883-1924) war nie in Amerika, kannte die Vereinigten Staaten nur aus Reisebüchern, Vorträgen und Berichten, und doch hatte er sich vorgenommen, das "allermodernste New Jork" zu zeichnen. Um so merkwürdiger, dass die Freiheitsstatue keine Fackel, sondern ein Schwert in den Sonnenhimmel reckt. Der Roman um Karl Roßmanns Neuanfang in Amerika, um einen durchschnittlichen Teenager, vertrieben und heimatlos, auf der Suche nach Zugehörigkeit und Sinn, gehört zu der Sorte von Geschichten, die nicht altern. Max Brod veröffentlichte den zwischen 1911 und 1914 entstandenen Roman postum 1927 unter dem Titel "Amerika"; erst später wurde dieser letzte der drei unvollendeten Romane Kafkas unter dem Titel "Der Verschollene" berühmt, seiner Erwähnungen in Tagebüchern und Korrespondenzen entsprechend.
"Dann sind Sie also frei? fragte sie.
Ja, frei bin ich, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser."
(aus: Der Verschollene)
"Der Verschollene" zeichnet den sozialen Abstieg des Helden Karl Roßmann nach, der trotz oder aufgrund seiner Freundlichkeit, seines Lerneifers und Anständigkeit nirgends anzukommen scheint. Die Aussicht auf eine solide Karriere im Hause seines reichen Onkels zerplatzt, wie so viele andere Perspektiven (Büroangestellter, Liftboy…) auf Karls Weg gen Westen, der auch immer stärker von Gewalt durchdrungen ist: ein Anti-Entwicklungsroman mit einem einsam bleibenden Helden, gescheitert in einem ihm fremd bleibenden Kosmos der Verheißung.

Karl Roßmann ist "ein moderner Sisyphus, der ewig den Felsen der Zugehörigkeit vergeblich wälzt" (Albert Camus)
Zurück zur Freiheitsstatue mit Schwert: Auch seine Freunde hatten Kafka darauf aufmerksam gemacht, dass seiner Statue of Liberty das leitende Feuer offenbar abhandengekommen sei. Das erste Kapitel erschien nämlich schon 1913 separat unter dem Titel "Der Heizer". Der Autor hätte also Jahre Zeit gehabt, den Text in späteren Auflagen zu korrigieren. Er tat es nicht.

Franz Kafka: Der Verschollene
Vollständig gelesen von Peter Simonischek
Produktion: RBB/Radio Bremen 1983
Redaktion: Kirsten Böttcher
Als Hörbuch-Podcast in der ARD Audiothek verfügbar

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Ebenfalls in der Audiothek finden Sie exklusiv bis Ende des Jahres 2024 ein einmaliges Hör-Angebot zum 100. Todestag des einflussreichsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts: Erzählungen Kafkas, Tagebucheinträge und Briefe sowie den Roman "Das Schloss" und in Kürze "Der Process" - alles vorgelesen von berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern.