Bayern 2

     

hör!spiel!art.mix Jelinek: Das schweigende Mädchen (4/4)

Elfriede Jelinek, Wien, Oktober 2014 | Bild: BR/Herbert Kapfer

Freitag, 02.10.2015
21:05 bis 23:00 Uhr

BAYERN 2

Das schweigende Mädchen (4/4)
Von Elfriede Jelinek
Mit Brigitte Hobmeier, Stefan Hunstein, Jonas Minthe, Wolfgang Pregler, Johannes Silberschneider, Edmund Telgenkämper, Stefan Wilkening und Elfriede Jelinek
Komposition: zeitblom
Regie: Leonhard Koppelmann
BR 2015
Ursendung
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Als Podcast verfügbar im Hörspiel Pool

Zur Regie der Produktion "Tristram Shandy, Gentleman" von Laurence Sterne
Karl Bruckmaier im Gespräch mit Marie Schoeß
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Als Podcast verfügbar in der artmix.galerie

Im Anfang war das Wort. Zumindest im Anfang der christlichen Heilsgeschichte wie sie vom Evangelisten Johannes überliefert ist. Das Gegenteil davon, nämlich das Schweigen, steht bei Elfriede Jelinek im Anfang einer pervertierten Heilsgeschichte. Was nicht heißt, dass die Autorin nicht doch beim Wort, bei der Sprache und vielfach Geschriebenem ankommen würde. Seit dem 6. Mai 2013 läuft in München der sogenannte NSU-Prozess, einer der wichtigsten Gerichtsprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dabei geht es um zehn überwiegend rassistisch motivierte Morde und zwei Sprengstoffanschläge, die der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" zugeschrieben werden. Mehr als zwölf Jahre konnte die Gruppe demnach diese Verbrechen relativ unbehelligt von zuständigen Ermittlern und Behörden ausführen. Vor dem Oberlandesgericht in München steht die mutmaßlich letzte Überlebende dieser Gruppe, Beate Zschäpe, und schweigt. Diejenige, die demzufolge detailliert über die Verbrechen der Gruppe sprechen könnte, verweigert sich, bleibt stumm. Gegen dieses Schweigen setzt Jelinek das Sprechen. Stimmen der Anklage, der Befragung und Abwägung genauso wie Stimmen der Verdrängung, der Beschönigung und Überhöhung. Auf der Grundlage von Prozessprotokollen, Ermittlungsakten, Medienberichten, mythologischen und religiösen Motiven entfaltet Jelinek ein Jüngstes Gericht, in dem sich Perspektiven überlagern, die Geschichte der Zwickauer Zelle zur Erzählung über zwei tote Erlöser und die sie gebärende schweigende Jungfrau und zur Antithese der biblischen Heilsgeschichte wird. Ein Tribunal gegen das Schweigen, das Nicht-Wissen, das Wegschauen, das sich zugleich selbst entlarvt als verstrickt in dieses Nicht-Wissen und Wegschauen. Zu Wort kommen ein vielstimmiges Volk, verkündende Engel, unwissende Propheten, ein fragender Richter, der Menschensohn, die Jungfrau Maria und Gott höchst selbst. Dazwischen auch die Stimme der Autorin, die anklagt, spricht und schreibt, aber "die Wahrheit schon gar nicht". Allesamt treten sie vor, um eine Geschichte zu befragen, in der sich Nicht-Wissen und Wissen-Wollen unheilvoll verschränken und deren Wurzeln weit ins Unbewusste der deutschen Seele hineinreichen.
"Wenn ihr dran bleibt an meinem Wort, dann müsst ihr womöglich noch meine Jünger werden, nein, das seid ihr noch nie, diese Gefahr besteht nicht, eine andre Gefahr besteht, dass ihr nämlich die Wahrheit erkennen werdet und die Wahrheit euch freimachen wird, wie die Jungfrau die Briefe mit Marken freigemacht hat. So frei! Freier geht’s nicht. Aber von mir könnt ihr sowas nicht erwarten. Ich schreibe keine Briefe mehr und die Wahrheit schon gar nicht." (Elfriede Jelinek)