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Marc Engelhardt (Hrsg.) Die Flüchtlingsrevolution. Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert.

In 21 Geschichten berichten die Weltreporter von Flüchtlingsschicksalen rund um den Erdball. Ihre faktenreiche Ermittlungen zeigen auch, wer von den globalen Migrationsströmen profitiert.

Von: Heinz Gorr

Stand: 07.11.2016

Buchcover "Die Flüchtlingsrevolution" von Marc Engelhardt | Bild: Pantheon Verlag, Montage: BR

"Ich bin Syrerin und Mutter von vier Kindern. Das war meine Wahl: Bleiben wir in Syrien, werden meine Kinder und ich vielleicht von einer Bombe getötet. Fliehen wir, ertrinken wir vielleicht im Mittelmeer. Im Herbst 2015 musste ich die schlimmste Entscheidung meines Lebens treffen. Dabei war ich einst der glücklichste Mensch der Welt ..."

Zitat Ameena A. (38) aus: Marc Engelhardt (Hrsg.): Die Flüchtlingsrevolution.

Unterschiedlichste Reportagen

Der Prolog der 38-jährigen Syrerin Ameena A. ist die einzige Fluchtgeschichte aus der Ich-Perspektive. Die anderen stammen von den Mitgliedern des größten Netzwerks freier deutschsprachiger Auslandskorrespondenten. Ihre Reportagen sind so unterschiedlich wie deren Protagonisten und die Weltregionen, die sie unfreiwillig verlassen haben. Denn, so die einfache und überzeugende Definition:

"Ein Flüchtling ist derjenige, der geht, obwohl er lieber bleiben würde. Doch die Verhältnisse lassen ihn nicht."

Marc Engelhardt

Exakte Recherchen

Dass die Autoren durchweg erfahrene Journalisten sind und nicht nur mit exakten Recherchen, sondern auch schwer zu entschlüsselnden Hintergründen aufwarten, ist ein großes Plus dieses Buchs. Allen voran: Herausgeber Marc Engelhardt. Er entlarvt in analytischen Artikeln das "Gerede von der Flüchtlingskrise" als irreführend: Wenn rund um den Globus 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind, ist das weit mehr als eine temporäre Erscheinung. Wir haben es, so Engelhardt, mit einer "neuen Völkerwanderung" zu tun, die die Welt, wie wir sie kennen, verändern wird. Und von der wir allenfalls Bruchteile mitbekommen:

"Aus Syrien fliehen Menschen genauso wie aus Eritrea, dem Jemen oder dem Kongo. Sie fliehen nach Deutschland und in die USA, aber auch in den Libanon, nach Südafrika oder sogar nach Somalia, ein Land, aus dem andere die Flucht ergreifen. 86 Prozent aller Flüchtlinge kommen den Vereinten Nationen zufolge in Entwicklungsländern unter."

Marc Engelhardt

Faktenreiche Ermittlungen

Zwischen den Berichten aus Burma, über Australiens extraterritoriales Internierungslager auf Nauru oder Israels Umgang mit afrikanischen Flüchtlingen steht Marc Engelhardt wie ein Anchorman mit seinen faktenreichen Ermittlungen. Ob die Politik versagt hat - von den Vereinten Nationen bis hinab zu den regional Verantwortlichen -, beantwortet er dabei ebenso nachvollziehbar, wie die Frage nach den Profiteuren der globalen Migrationsströme.

Aktuelle Geschichten

Meist sind die 21 individuellen Geschichten der Weltreporter so aktuell wie die von Ameena A.: Im Frühjahr ist sie mit ihren beiden jüngeren Kindern in Mecklenburg-Vorpommern gelandet, hat die andere Hälfte ihrer Familie wiedergefunden. Doch nicht immer gibt es ein vorläufiges Happy End. Phasenweise macht einen dieses hervorragend recherchierte, wichtige Buch sprachlos: vor allem dann, wenn das Phänomen Flucht von abstrakten Opferzahlen heruntergebrochen wird auf Betroffene wie den Iraker Ali.

"Als der 33-Jährige auf sein Telefon guckt, bricht er in Tränen aus. Auf dem Display ist ein Foto seines sechsjährigen Sohnes Hussain und seiner vierjährigen Tochter Zainab. Zainab liegt zu diesem Zeitpunkt im Leichenhaus auf der Insel Kos, Hussains lebloser Körper treibt irgendwo im Meer zwischen der griechischen und der türkischen Küste."

Philipp Hedemann

Pantheon Verlag, München 2016 
351 Seiten


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