Lesen ist Genuss, Zeit-Genuss: Lange vor den Sportübertragungen im Fernsehen bot das Lesen die Möglichkeit der slow motion, der Zeitlupenwiederholung, und es tut das immer noch. Und die Regie dafür hat man in der eigenen Hand. Man kann die spannungsgetriebene Handlung sozusagen lebensecht in aller Rasanz verfolgen, atemlos vorwärtsblätternd - oder in aller Seelenruhe zurückblättern und vorblättern. Man kann sich zurücklehnen, durchatmen und einen Satz, eine Passage noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Jedes einzelne Wort, jedes Bild kann man sich noch einmal vergegenwärtigen und auskosten. Wenn man die Spannung im Krimi nicht mehr aushält - wer hindert einen schon, die Auflösung am Ende vorwegzunehmen und in aller Ruhe und mit größtem Genuss den Autor bei der Ausübung seines Handwerks zu beobachten, ihm dabei zuzuschauen, wie er die Fährten legt, den Leser an der Nase herumführt und ihn dann schließlich doch zum Ziel bringt?

Entnommen aus: Rudolf Walter "Genießen - was schön ist und guttut", Herder Verlag, Freiburg 2024