Bayern 2 - Gedanken zum Tag


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B. A. Eckerstorfer Gedanken zum Tag

Die Wüstenväter sagen wenig. Doch ein einziger Satz von ihnen kann ein Leben verändern.

Stand: 05.08.2024

Gedanken zum Tag - Bayern 2 | Bild: BR

05 August

Montag, 05. August 2024

Die Wüstenväter sagen wenig. Doch ein einziger Satz von ihnen kann ein Leben verändern. Ein junger Mann war in seelischer Not. Waren es wiederkehrende Fantasien, Schuldgefühle oder unbewältigte Verletzungen? Wir wissen es nicht. Regelmäßig ging er zu Abbas Zeno, verheimlichte aber immer, was ihn quälte. Er wollte sich nicht bloßstellen, denn der berühmte Mönch hätte ihn dann vielleicht verachtet. Beim nächsten Besuch des jungen Mannes gab ihm Zeno wie gewöhnlich eine geistliche Unterweisung, segnete ihn und begleitete ihn zur Tür. Der junge Mann rang mit sich: "Soll ich ihm nicht diesmal meine Seelennot offenbaren?" Beim Abschied legte der Alte ihm plötzlich die Hand auf die Schulter, blickte ihn an und sagte: "Was ist los mit dir? Bin ich nicht auch ein Mensch wie du?" Da ging dem jungen Mann das Herz auf: "Vater, du weißt ohnehin, was mich peinigt." Der Altvater sah ihn liebevoll an: "Mein Sohn, seit drei Jahren kommst du zu mir und nie konntest du dich mir ganz anvertrauen. Du musst aussprechen, was dich gefangen hält, dann kannst du frei werden." Unter Tränen sagte der Besucher dem Einsiedler alles. Der Altvater fällte kein Urteil, gab keine Zurechtweisung, erhob keine Forderung. Er wiederholte nur "Bin ich nicht auch ein Mensch wie du?" Der junge Mann richtete sich erleichtert auf und ging voll Freude weg. Er hatte den Meister gesucht und gefürchtet; er fand einen Menschenbruder, und der löste ihm die Zunge und das Herz.

Entnommen aus: Bernhardt A. Eckerstorfer "Kleine Schule des Loslassens. Mit den Weisheiten der Wüstenväter durch den Tag", Tyrolia Verlagsanstalt, Innsbruck, Wien 2019


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