Für mich ist (…) das, was den Menschen so ungeheuer kostbar macht, seine schöpferische Fähigkeit, das heißt, das aus jedem Menschen eine ganze neue Welt hervorgehen kann. Das unterscheidet ihn vom Tier. Das Tier steht in einer gewissen Kausalität, bleibt darin verhaftet und kann aus dem Kausalkreis seiner Instinkte nicht ausbrechen. Keine Biene kann sich plötzlich entschließen, fünfeckige statt sechseckiger Waben zu bauen. Kein Tiger kann beschließen, Vegetarier zu werden. Das Tier ist entschieden. Der Mensch kann sich selbst bestimmen, und dort, wo man ihm das Menschsein nicht gewaltsam verweigert, tut er es auch. Dort ist er kreativ, schafft neue Welten, neue Kulturen, neue Begriffe und neue Werte. Das ist für mich das Entscheidende. Es gibt im Materialismus zwei Arten, die menschliche Persönlichkeit zu erklären: durch die Erbmasse einerseits und die Umwelteinflüsse andererseits. Aber ich behaupte, die menschliche Persönlichkeit geht über diese beiden Faktoren hinaus. Ich leugne nicht, dass beide Einflüsse vorhanden sind. Aber das erklärt den Menschen noch nicht. Es kommt noch etwas hinzu, was man Geist nennt oder Individualität. In diesem Fall geht es nicht um das Wort. Ich rede vom schöpferischen Kern jedes einzelnen Menschen, der nicht allein aus den Genen und den Umweltbedingungen erklärt werden kann.

Entnommen aus: Michael Ende "Mehr Phantasie wagen. Ein Manifest für Mutige", Thiele Verlag, München und Wien 2019