Bayern 2 - Gedanken zum Tag


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José Ortega Y Gasset Gedanken zum Tag

Die Wendungen der Umgangssprache, in denen sich tausendjährige Beobachtungen niedergeschlagen haben, bergen Schätze einer höchst treffenden und noch unausgebeuteten Seelenkunde.

Stand: 14.08.2024

Gedanken zum Tag - Bayern 2 | Bild: BR

14 August

Mittwoch, 14. August 2024

Die Wendungen der Umgangssprache, in denen sich tausendjährige Beobachtungen niedergeschlagen haben, bergen Schätze einer höchst treffenden und noch unausgebeuteten Seelenkunde. Was Liebe weckt, ist immer "bezaubernd". Und dieser Ausdruck aus der Technik der schwarzen Kunst, der auf das Liebesobjekt angewandt wird, zeigt uns, dass der anonyme Schöpfergeist der Sprache den Ausnahmezustand erkannt hat, in den der Verliebte unabwendbar gerät. Die ältesten Verse waren Zauberformeln, die cantus und carmen hießen. Die magische Handlung und ihr Ergebnis war die incantatio. Von incantatio kommt das spanische encanto - Entzücken und von carmen das französische charme. Aber wie immer seien die Beziehungen zwischen Zauberei und Verliebtheit wie immer, es existiert nach meiner Meinung zwischen ihr und der Mystik eine viel tiefere Ähnlichkeit, als man bisher geglaubt hat. (…) Ich meine den Umstand, dass der Verliebte gerne religiöse Ausdrücke verwendet. Für Plato ist die Liebe ein "göttlicher Wahnsinn", und jeder Liebende "betet" die Geliebte an, fühlt sich an ihrer Seite "wie im Himmel" usw. Dieser sonderbare lexikalische Austausch zwischen Liebe und Mystik legt den Gedanken einer tief verwurzelten Gemeinsamkeit nahe.

Entnommen aus: José Ortega Y Gasset "Über die Liebe. Meditationen", Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1951


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