Michael Stuller Gedanken zum Tag
Wir befinden uns in einer Zeit, in der viel vom Hier und Jetzt geredet wird. Aber mir kommt immer mehr vor, dass keiner recht weiß, wo das sein könnte.
17. September
Dienstag, 17. September 2024
Wir befinden uns in einer Zeit, in der viel vom Hier und Jetzt geredet wird. Aber mir kommt immer mehr vor, dass keiner recht weiß, wo das sein könnte. Wahrscheinlich, weil sich diese Adresse nicht im Navi eingeben lässt. Das Hier und Jetzt scheint so etwas wie ein hippes Viertel in einer Großstadt geworden zu sein. Das Hippe droht aber abzublättern, weil niemand mehr die Zeit hat, sich um die Erhaltung dessen zu kümmern, was das Viertel so begehrenswert gemacht hat. Das Hier und Jetzt wird zusehends von einem Sofort und Mehr verdrängt, das von uns verlangt, über die Gegenwart hinweg in eine Zukunft zu preschen, die uns vorgaukelt, dass dort auf jeden Fall mehr auf uns wartet als in der Vergangenheit. Wir werden ins Ungewisse getrieben, ohne das kennenlernen zu können, was der Augenblick zu geben hat. Das Leben erscheint als eine Hetzjagd. Im Außen angestoßen durch den immer nächsten Kick, den man uns über sämtliche Kanäle unserer digitalen Welt schmackhaft macht; im Inneren belohnt vom limbischen System, das sich mit Dopamin dafür bedankt, dass wir bei der Jagd mitmachen. Es ist ein Botenstoff, der seine Glücksgefühle auf einen Reiz hin ausschüttet, so wie er es in der Evolution immer gemacht hat. Was gut für unser Überleben war, wurde honoriert. Fürs Überleben ist längst nicht mehr alles gut, was zur Dopaminausschüttung führt. Die Glücksgefühle sind nach wie vor angenehm, aber sie halten nur kurzfristig an, dann wollen wir den nächsten Kick, und weiter geht die Hetzjagd.
Entnommen aus: Michael Stuller "Komm runter. Ruhe lernen", Edition a GmbH Verlag, Wien 2023