Bayern 2 - Gedanken zum Tag


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Wilhelm Schmid Gedanken zum Tag

Mein erster Gang am Morgen führt zum Fenster. Weit öffne ich die Fensterflügel, beuge mich ein wenig hinaus und atme tief ein.

Stand: 01.10.2024

Gedanken zum Tag - Bayern 2 | Bild: BR

01 Oktober

Dienstag, 01. Oktober 2024

Mein erster Gang am Morgen führt zum Fenster. Weit öffne ich die Fensterflügel, beuge mich ein wenig hinaus und atme tief ein. Die Morgenluft ist ein Kind der Nacht: Wenn alle schlafen, streicht sie über taufrische Felder und atmende Wälder. Ungestört von Auspuffgasen und Abluftkanälen zieht sie heran. Und wie riecht dieser Morgen? Wie ein Pferd blähe ich die Nüstern, wie ein Süchtiger ziehe ich den Luftstrom in die Lunge. Der erste Eindruck ist der stärkste - mit dem zweiten und dritten beginnt schon die Gewöhnung. Wie ein Trunkener bin ich etwas benebelt, berauscht von dem noch jungen Tag, wenn die Luft "gut" ist, ernüchtert, wenn sie "schlecht" ist. Um sie zu riechen, muss sie durch die Nase, aber das wahre Riechorgan scheint die Lunge zu sein, denn von wohlriechender Luft kann sie nicht genug kriegen, und ich muss die Geduld aufbringen, sie mit tiefen Atemzügen zu befriedigen. Bei übelriechender Luft aber geht sie von selbst dazu über, flach zu atmen, und ich kann das Fenster gleich wieder schließen. Manchmal ist sie angesäuert vom hohen Ozongehalt und beißt in den Nasenwänden. (…) Ein Geschenk ist dagegen die würzige Luft, die einen Hauch von frisch geschnittenem Gras mit sich bringt. Und von dem durchdringend frischen Duft, ich weiß nicht woher, von nahen Kiefernwäldern oder von fernen Kräutern des Südens kostet die Nase jedes Molekül einzeln. Das ist die Kunst des Riechens, olfaktorische Übung der Lebenskunst.

Entnommen aus: Wilhelm Schmid "Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst, Insel Verlag, Frankfurt 2005


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