Hanna Buiting Gedanken zum Tag
Wer "Ich" sagt, ist nicht automatisch egoistisch, nicht eitel, nicht arrogant.
07. Oktober
Montag, 07. Oktober 2024
Wer "Ich" sagt, ist nicht automatisch egoistisch, nicht eitel, nicht arrogant. Schon gar nicht, wenn die Frage war: "Wie geht es dir?" Wird uns diese Frage gestellt, sollten wir davon ausgehen dürfen, dass ein Interesse unseres Gegenübers besteht. "Wie geht es dir?" sollte zeigen: Du bist gemeint. Erzähl mir von dir. Trau dich, "Ich" zu sagen. Ich habe das Gefühl, dass das Schreiben zu einer schrittweisen Veränderung führen kann, denn auf dem Papier ist Platz. Für jede Facette des Ichs. Hier findet keine äußere Bewertung statt. Wenn jeder Satz mit "Ich" beginnt, sei es so. Es gibt keinen schrägen Blick dafür, kein Naserümpfen. Ich darf sein. Weder gibt es ein "zu groß" noch "zu klein". Denn diese Art des Schreibens ist zuallererst eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Es ist Selbstvergewisserung, Fokussierung, Klärung, eine Annäherung an das eigene Ich. Und das kann dazu führen, dass wir uns selbst ernster nehmen, anfangen, uns besser zu verstehen. Vor allem aber geht es um Sichtbarkeit: Schreibe ich "Ich" aufs Papier, sehe ich mich buchstäblich gemeint. Ich erkenne meine eigene Existenz an, betrachte sie als berechtigt, mehr noch als das: als gewollt. Kein Zufall. Nicht beliebig. Nicht austauschbar. Sondern wertvoll. Würdig und recht.
Entnommen aus: Hanna Buiting "Schreiben ist Gold. Eine Einladung zu Kreativität und Achtsamkeit", Herder Verlag, Freiburg 2022