Philipp Hübl Gedanken zum Tag
Wir leiden an einer fundamentalen Selbstüberschätzung: Wir irren uns darüber, wie gut wir die Welt verstehen.
09. Oktober
Mittwoch, 09. Oktober 2024
Wir leiden an einer fundamentalen Selbstüberschätzung: Wir irren uns darüber, wie gut wir die Welt verstehen. Psychologen nennen dieses Phänomen Wissensillusion. Genauso, wie wir an der Wissensillusion leiden, sind wir auch Opfer der Moralillusion: Wir überschätzen unser Wissen über Moral, indem wir uns einbilden, wir hätten gute Gründe für unsere Werturteile. Im Alltag, in Talkshows und Diskussionsrunden geben Menschen für ihre Meinungen selten Gründe an, sondern sagen meist nur, ob sie etwas gut oder schlecht "finden". Die Frage, welche Werte und Normen zur Verhandlung stehen, wie man sie gewichtet, welche empirischen Fakten für das Gesamturteil relevant sind - all das kommt so gut wie nie zur Sprache. So wie jeder Mensch ein intuitiver Psychologe ist, ohne jemals das Fach studiert zu haben, sind wir alle intuitive Ethiker, die ohne moralphilosophisches Fachwissen urteilen. Dennoch sind wir uns gerade bei moralischen Fragen besonders sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Viele glauben sogar, das sie in ihren Urteilen niemals danebenliegen könnten. Das ist ein fundamentaler Irrtum, wie die Moralpsychologie zeigt, derjenige Zweig der Psychologie, den man auch deskriptive Ethik nennen kann, weil er beschreibt, wie wir moralisch denken, handeln und urteilen, aber nicht vorschreibt, wie wir denken, handeln und urteilen sollen.
Entnommen aus: Philipp Hübl "Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht", Siedler Verlag, München 2024