Wenn wir es uns abtrainieren, mit Stress umgehen zu können, nehmen wir uns die Möglichkeit zur Entwicklung. Dann schafft es der Azubi tatsächlich nicht mehr, die Ausbildung abzuschließen, weil er sich für die Entspannung entscheidet und in der Früh im Bett liegen bleibt, statt in die Werkstatt zu fahren und loszulegen. Dann schafft es die Abteilung nicht mehr, einen schwelenden Konflikt auszutragen und zu lösen, weil damit Stress verbunden wäre. Und es wird auch nicht mehr ausgelotet, wie Job und Familie miteinander in Einklang zu bringen sind. Es wird anstrengend - das weiß man - und man lässt die Finger davon. Deshalb bin ich skeptisch, wenn Entspannung als ein unbedingtes und großzügiges Heilsversprechen gefeiert wird. Wenn wir die Orte verlassen, an denen wir uns gefordert fühlen und uns selbst wahrnehmen, dann bleibt uns nur die Bedeutungslosigkeit. Und es geht uns die Antwort auf die Frage verloren, wer wir eigentlich sind. Dann wäre es die Entspannung, die uns steuert. Und nicht mehr wir selbst.

Entnommen aus: Helen Heinemann "Warum Stress glücklich macht. Oder: Wieso wir aufhören sollten zu entspannen", adeo Verlag, Asslar 2015