Wolf-Andreas Liebert Gedanken zum Tag
Schlafen und Wachen sind Alltagserfahrungen..
16. November
Samstag, 16. November 2024
Schlafen und Wachen sind Alltagserfahrungen, und daher wissen wir, worin sich die Schlaferfahrung von der Erfahrung des Wachseins unterscheidet: Schlafende sind aus der Sicht der Wachwelt kaum handlungsfähig und bekommen das Leben im Wachzustand nur sehr eingeschränkt mit. (…) Jeden Tag erwacht die schlafende Person aufs Neue. Und genau hier beginnt die Metapher vom spirituellen Erwachen einen Unterschied auszumachen. Denn Erwachen im religiösen oder spirituellen Sinn drückt die Vorstellung aus, dass jemand dauerhaft schläft und dann spontan oder durch ein bestimmtes Ereignis in einem Aha-Erlebnis wach wird, das ihm oder ihr für immer "die Augen öffnet". Ein spirituelles Erwachen ist also eine tiefgreifende Absolutheitserfahrung, und geschieht gerade nicht jeden Tag aufs Neue. Das metaphorisch gemeinte Schlafen bedeutet, dass die "schlafenden" Menschen die wahren Tatsachen und Zusammenhänge nicht wahrnehmen können. Sie befinden sich in einem Zustand, in dem alles nur Traum, Illusion und Täuschung ist. Rückblickend erscheint es Erwachten unverständlich, warum sie so dumm sein konnten, diese Illusion nicht zu erkennen. Jetzt aber glauben sie sich im Besitz der absoluten Wahrheit und bauen ihr Leben auf der neu gefundenen Wahrheit auf. Durch die neu gewonnene Sicht wird die ganze Welt umgedeutet und erscheint in anderem Licht.
Entnommen aus: Wolf-Andreas Liebert "Graswurzelglaube. Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft, Kösel Verlag, München 2024