Hauke Goos Gedanken zum Tag
Es gibt Menschen, die finden, dass auf der Welt immer noch zu wenig geredet wird.
29. November
Freitag, 29. November 2024
Es gibt Menschen, die finden, dass auf der Welt immer noch zu wenig geredet wird. Dass wir uns mehr austauschen sollten, jederzeit, über alles. Weil reden hilft. Weil wir doch über alles reden können. Weil das, was gesagt werden kann, auf jeden Fall gesagt werden muss. Es ist ja ein großes Missverständnis: dass wir uns umso besser verstehen, je mehr wir miteinander reden. Dass wir nur sagen müssen, was ist, damit der Weltfrieden sich endlich einstellt. In Wirklichkeit hilft Reden nicht weiter, das weiß jeder, der mal bei einem Elternabend war. Verständigung ist eine Illusion. Weil Menschen, selbst wenn sie dasselbe sagen, trotzdem oft völlig unterschiedliche Dinge meinen. Und weil es ohnehin nahezu ausgeschlossen scheint, in Worte zu fassen, was einen so umtreibt. Es gibt sogar die Theorie, dass Verständigung zwischen zwei Menschen grundsätzlich unmöglich sei, jedenfalls mittels der Sprache. Dass jedes Wort sofort zu Missverständnissen führt. Dass Sprache verwirrt, Sachverhalte aber kaum je klärt. Worüber man nicht reden kann, darüber müsse man schweigen, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesagt, bevor er sich in die irische Einsamkeit zurückzog. Komik entsteht, sobald zwei Menschen miteinander reden. Weil Dinge nicht zusammenpassen, und weil eine Lücke klafft zwischen Soll und Haben, Schein und Sein.
Entnommen aus: Hauke Goos "Schöner Schreiben. 50 Glanzlichter der deutschen Sprache von Adorno bis Vaterunser", Deutsche Verlagsanstalt, München 2021