Bayern 2 - Gedanken zum Tag


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Anne Gorges Gedanken zum Tag

Gefühlt warten wir unser halbes Leben auf etwas: Wir warten an der Bushaltestelle oder an der Supermarktkasse, auf das Wochenende oder auf unsere Bestellung im Restaurant. Die meisten von uns sind nicht besonders gut darin, zu warten.

Stand: 29.01.2025 00:01 Uhr

Gedanken zum Tag - Bayern 2 | Bild: BR

29 Januar

Mittwoch, 29. Januar 2025

Regunglos liegt mein Wintergarten da. Wie verzaubert, nur von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die Beete sind längst abgeerntet, die ersten Frühlingsboten lassen noch eine Weile auf sich warten. Und so tut er, was er schon die letzten Wochen getan hat: nichts. Tage-, wochen-, monatelang. Kein Säen, kein Ernten, nicht einmal ein kleines bisschen Wachstum. Völlig in sich versunken steht er still.
In einer Welt, in der jeder darauf abzielt, sich ständig zu verbessern und über sich selbst hinauszuwachsen, nimmt sich mein Garten jeden Winter die Zeit, mehrere Monate völlig brachzuliegen. Ja, mehr noch! All die kleinen Erfolge und großen Ernten des letzten Jahres sterben mit den Nachtfrösten ab. Und so zeigt sich der Garten im Winter verletzlich und kahl. Nackte Beete, die nichts vorzuweisen haben.
Die ruhigen, regungslosen Wintermonate gehören ganz selbstverständlich zum natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten dazu.
Vielleicht sollte das auch wieder ein normaler Teil unserers Lebens werden. Wochen, in denen nichts Aufregendes passiert. In denen wir nicht an uns arbeiten, uns verbessern oder aufblühen müssen. In denen es keine Highlights oder großen Erfolge gibt. In denen wir einfach langsamer werden und von allem ein bisschen weniger tun. Stille Winterwochen, in denen unsere Seele Zeit hat, hinterherzukommen, stillzustehen und Atem zu holen.

Entnommen aus: Anne Gorges "Bin im Garten – Jesus treffen, Geschichten vom Wachsen und Staunen", Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2024


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