Johanna Haberer Gedanken zur Passionszeit
Die Fastenzeit ist eine gute Gelegenheit, um Ansprüche zu überdenken oder - noch besser - zurückzuschrauben.

08. März
Samstag, 08. März 2025
Es ist ein gefeiertes Buch und seit einiger Zeit auf Deutsch erhältlich. "Frei" heißt es und im Untertitel: "Erwachsenwerden am Ende der Geschichte". Lea Ypi hat dieses Buch geschrieben, eine Professorin der Politikwissenschaft an der berühmten London School of Economics. Sie beschreibt darin das Ende des Kommunismus in Albanien und ihre Jugend in einem Land, das durch ideologische Propaganda die Armut und den Hunger der Bevölkerung zu überdecken suchte. Sie erzählt von den langen Warteschlangen vor den Geschäften und dass es ein großer Reichtum war, wenn man als Elfjährige ein Kaugummipapierchen - weggeworfen von Touristen - gefunden hat. Man konnte lange daran riechen. Ich bin derzeit als Pfarrerin in Thessaloniki. Auch hier in diesem krisengeschüttelten Griechenland kann man lernen, wie wenig man zum Leben braucht. Eine Studentin sitzt fröhlich in der Sonne in einem Café und plaudert mit ihren Kommilitoninnen. Vier Stunden ist sie da und sie nippt an einem kleinen Kaffee. Die Lebensmittelpreise sind wie bei uns, der Mindestlohn liegt bei 4.35 €. Es gibt keine Pflegeversicherung und auf eine dringende Operation kann man schon mal vier Monate warten. Nachrichten aus Deutschland erscheinen aus dieser Perspektive befremdlich. Die Fastenzeit ist eine gute Gelegenheit, um Ansprüche zu überdenken oder - noch besser - zurückzuschrauben. Und am allerbesten wäre es, wir würden die Unzufriedenheit wegfasten.
Johanna Haberer / unveröffentlichter Text