Claudia Paganini Gedanken zur Fastenzeit
Zwischen der Gefangennahme, dem Verhör und der Hinrichtung Jesu kommt es in der biblischen Erzählung zu einem retardierenden Moment: ein Augenblick, in dem sich das Blatt noch wenden könnte.

26. März
Mittwoch, 26. März 2025
Zwischen der Gefangennahme, dem Verhör und der Hinrichtung Jesu kommt es in der biblischen Erzählung zu einem retardierenden Moment: ein Augenblick, in dem sich das Blatt noch wenden könnte. Gemeint ist die Szene, in der Pilatus das Volk fragt, ob er Jesus freilassen soll oder einen Verbrecher namens Barabbas. Die Menge, die Jesus Tage zuvor noch als Messias gefeiert hatte, fordert nun seine Kreuzigung, wählt die Freilassung eines Aufrührers. Die Dynamik der Szene ist erschütternd und sie ist – zugleich – aktuell. Denn in der medialen Debatte, in den Sozialen Netzwerken vollziehen sich ähnliche Mechanismen: Menschen schließen sich einer Mehrheitsmeinung an, schreien laut mit, anstatt zuzuhören und nachzudenken. Oft wählen sie "Barabbas" im Sinn einer einfachen, schnellen Antwort anstelle einer schwierigen, die aber der Komplexität des Sachverhaltes eher gerecht würde.
Konkret kommt es dazu, wenn populistische Politiker monokausale Erklärungen liefern und zu einem harten Durchgreifen auffordern. Oder wenn sich im Netz ein Schwall von Hate Speech an besonders exponierten Personen entlädt. Dann wird aus der stummen Masse ein lauter Mob, der die Verurteilung der Einen und das Reinwaschen der Anderen fordert. Anders als damals bleibt die Aggression jedoch nicht etwas räumlich Abgegrenztes, sondern verbreitet sich im Netz dank der algorithmischen Verstärkung rasant. Dialog kann es in beiden Fällen kaum mehr geben.
Claudia Paganini / unveröffentlichter Text