Im Verlieben geschieht etwas Gewaltiges. Es vollzieht sich ein Durchbruch hin zu unserer Seele. Dadurch gelangen wir in eine Erfahrungswelt, die das Übliche überschreitet. Wir machen Erfahrungen, die wir von Wahnwitzigen und Poeten kennen, die sich oft an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie bewegen. Tatsächlich verrücken Verliebte das Gängige, riskieren dabei auch verrückt zu werden. Sie verschaffen sich dadurch aber auch Zugang zu einer Quelle, die ihnen nicht zur Verfügung stehen würde, würden sie sich diesem Risiko nicht aussetzen. Sie müssen sich auf diese Gratwanderung einlassen (…), wollen sie das, was für andere unsichtbar bleibt, sichtbar machen. Sie sehen etwas, was andere nicht sehen können. Sie übersteigen die Alltäglichkeit unserers Daseins. Sehen mehr, als tatsächlich ist. Verfügen über die Kraft, das, was wir als Wirklichkeit betrachten, zu verwandeln. Man mag das als eine Illusion oder als Hirngespinste abtun. Oder aber zugestehen, dass die Verliebten in der anderen Person etwas sehen, was dem, der nicht verliebt ist, vorenthalten bleibt, wodurch ihm auch etwas entgeht.

Entnommen: Wunibald Müller "Verzaubert hab ich dich. Im Verlieben unser inneres Gold entdecken", Echter Verlag, Würzburg 2024