Sendung und Podcast "30. April 1945" von Alexander Kluge
Für Alexander Kluge hat die Kapitulation der ewig kriegführenden Deutschen nach 1945 auch etwas von einem Märchen: die Deutschen als Hans im Glück, der zwar mit leeren Händen dasteht, der aber von nun an ein anderes Leben führen kann.
Historischer Wendepunkt
„Niemand hat einen Überblick über das Ganze“, lässt der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge einen seiner Protagonisten gleich zu Beginn feststellen, um anschließend auf gut dreihundert Seiten (unterstützt von seinem Schriftstellerkollegen Reinhard Jirgl) uns eben diesen Überblick über den historischen Wendepunkt zu schenken, den dieses Datum markiert: "Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann".
Lebensgeschichten und Anekdoten
Kluge tut dies, indem er zum einen den Blick auf seine Jungen-Persona richtet – den 13jährigen Alexander, der eben einen verheerenden Bombenangriff auf seine Vaterstadt überlebt hat, aber viel mehr als am Krieg unter der Trennung der Eltern leidet – zum anderen aber auch die Sieger und Besiegten aufsucht, sich in sie hineinversetzt, schließlich gar dem deutschen Geiste in Gestalt Martin Heideggers seine verwunderte Aufmerksamkeit schenkt und am Ende wie selbstverständlich Geistern begegnet, die, ausgehend vom Blocksberg, den Ungerächten dieses Gemetzels eine Art Stimme verleihen wollen, die sogar ein Ezra Pound noch zu vernehmen in der Lage ist. Die schriftstellerische Methode ist den Kluge’schen Lesern und Zuschauern vertraut: In kleinen Erzähleinheiten werden Lebensgeschichten gerafft, Anekdoten ausgebreitet, überraschende Verbindungen geknüpft, die in ihrer Gesamtheit – fein einander ablösend die Tragödie und die Komödie – ein ungemein scharfes Bild von einem bestimmten Thema, von einem bestimmten Zeitpunkt vermitteln können.
"Menschen sind unbefangene sachliche Beobachter, sie beherrschen Sachlichkeit. Und sie haben auf der anderen Seite die entgegengesetzte Eingenschaft und das ist Empathie - Einfühlung. Und diese beiden Zangen, Empathie und Sachlichkeit, die bewegen die Menschen. Und so lange das gelingt, sind wir menschlich. Und wenn das ausfällt, sind wir's nicht."
Alexander Kluge
Die Deutschen als Hans im Glück
Wieder und wieder wird eine letztlich poetische Kraft beschworen, die der „Geisterwelt der objektiven Tatsachen“ etwas Uraltes, etwas zutiefst Menschliches entgegenzusetzen hat, eine Widerständigkeit des Erzählens, die aus seinen Büchern eine „Wagenburg der Subjektivität“ macht, wie Kluge es einmal an anderer Stelle genannt hat. Und wenn wir uns in dieser Wagenburg zurechtgefunden haben, dann erschließt sich uns Lesern und Hörern vielleicht auch dieses größte Wunder des 20. Jahrhunderts: dass diese ewig kriegführenden Deutschen, dieser Aggressor im Herzen Europas, mit diesem 30. April 1945 die Waffen niederlegt. Und dies nicht aus einem taktischen Kalkül heraus, sondern aus einer bis in die letzten Seelengründe reichenden Erschöpfung, die es möglich macht, ohne Hintergedanken zu kapitulieren – eine große zivilisatorische Leistung, für die Kluge wiederum historische Parallelen anzuführen in der Lage ist, die aber auch etwas von einem Märchen hat: die Deutschen als Hans im Glück, der zwar mit leeren Händen dasteht, der aber von nun an ein anderes Leben führen kann.
Alexander Kluge: 30. April 1945: Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann
2 Teile
Mit Hannelore Hoger, Peter Fricke, Helge Schneider, Johannes Herrschmann u.a.
Musik: Den Sorte Skole, Hélène Breschand, JR Robinson aka Wrekmeister Harmonie u.a.
Bearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier
BR 2015
Alexander Kluge, geb. 1932 in Halberstadt, Jurist, Autor, Filmemacher. Bis Mitte der 80er Jahre 14 abendfüllende Spielfilme, vier Bände mit Geschichten, philosophisch-soziologische Fortsetzung der Kritischen Theorie mit Oskar Negt. Seit 1988 Etablierung von Kulturfenstern im Privatfernsehen, ca. 1.500 Stunden Sendezeit.
Weitere BR-Hörspiele Eigentum am Lebenslauf – Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge (2007, mit Andreas Ammer/Console), Chronik der Gefühle (2009, Deutscher Hörbuchpreis), Die Pranke der Natur (und wir Menschen). Das Erdbeben in Japan, das die Welt bewegte, und das Zeichen von Tschernobyl (BR 2011), Auf dem Dach der Welt (BR 2012).