Gespräch mit Regisseur Klaus Buhlert Vom Process zum Schloss
Wie tastet man sich an Textfragmente heran? Hörspiel-Regisseur Klaus Buhlert im Gespräch über die Inszenierung des Hörspiels "Das Schloss" von Franz Kafka.
Herbert Kapfer: Zwischen den Fragmenten Der Process und Das Schloss, wir sprechen über Kafkas Schreiben, liegen etwa acht Jahre. Ähnlich lange ist der Produktionsabstand zwischen den beiden gleichnamigen Hörspielen. Bei Kafka Das Schloss sagten wir am Anfang, das Hörspiel kann sich die Freiheit nehmen, wie wir sie etwa beim Film kennen. Das war der Ausgangspunkt – der Gegenpol zu der Arbeit am Hörspiel Der Process. Auch gab es als Ausgangspunkt keine textkritische Betrachtung, sondern als Vorlage, als Stoff diente der posthum von Max Brod herausgegebene, sogenannte „Roman“ Das Schloss. Der Künstler – so unsere Verständigung zu Beginn der Arbeit – ist frei, sich den Stoff anzueignen, sich ihm schrittweise und subjektiv zu nähern. Wie fing für dich die Arbeit unter diesen Voraussetzungen an und wie würdest du die Grundidee für das Hörspiel Das Schloss beschreiben?
Klaus Buhlert: Das hat beim Schloss mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ein Land, eine Gegend zu verlassen – endgültig und ohne Chance zurückzukehren – das ist bei Kafka die Grundidee des Landvermessers K., der irgendwo – warum auch immer – von A nach B gehen muss, um in B zwangsläufig eine Heimat zu finden. Egal ist zunächst dabei, welche Lebensumstände in B herrschen, er wird immer der Fremde bleiben, der Hinzugekommene. Das hat mich interessiert, weil es in meinem Leben Parallelen dazu gibt. Und das Filmische daran vielleicht auch, weil ich aus dieser Zeit eigene Bilder im Kopf herumtrage. Stichwort: amerikanischer Western. Mach’s filmisch, aber mach es 12 Stunden. Das war das überzeugende Resultat unseres Vorgesprächs.
Herbert Kapfer: An irgendeiner Stelle schrieb Kafka einmal im Zusammenhang mit dem Schloss, es ginge um ein stehendes Marschieren. Immer geht es um Abhängigkeiten und Macht, eine unsichtbare abstrakte Machtabhängigkeit, die sich erst im Laufe der Zeit in ihren wechselnden Relativitäten zeigt, vielleicht auch nur ansatzweise zeigt. Ein Machtapparat, bei dem die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Das Schloss und seine Herrschaft, eine gegebene nicht hinterfragbare Macht.
Klaus Buhlert: Ja, stehendes Marschieren, erkennendes Nicht-Erkennen oder nicht-erkennendes Erkennen, das Nicht-Erfüllen einer Erwartung, die eigentlich so nahe liegt, das sind die paradoxen Dinge, die Kafka so wahnsinnig gut beherrscht und die wohl seinen Schreibprozess bestimmt haben. Er hat diese Figur des Landvermessers so konzipiert, dass dieser Mensch in besonderer Art und Weise geeignet erscheint, einem solch paradoxen System beizukommen. Keine Ideologie – er will bleiben, um jeden Preis und deshalb verändert er von einem Moment auf den anderen die Wahl der Mittel, überlegt wie seine Taktik aussehen muss, um zum Schloss zu gelangen, um zu bleiben. Er will zum Schloss, um endlich wahrgenommen zu werden. Das ist der einzige Grund, weshalb sich dieser Mensch K. einem solchen System ausliefert.
Herbert Kapfer: In jedem Fall ein Einzelner, ein Individuum im Kampf, in der Auseinandersetzung mit dem System. Und so, wie es sich jetzt, fast hundert Jahre später darstellt, eine elementare Erfahrung, die das ganze 20. Jahrhundert besonders ausgemacht hat.
Die musikalischen Tableaus, die Sounds, Geräusche, elektronisch verfremdeten Klänge, Instrumente, Klingeln, Telefonstimmen – welche Funktion haben sie in der Gesamtkonzeption dieses Hörspiels?
Klaus Buhlert: Es gab musikalische Skizzen. Studien, die entstanden sind, bevor ich 1980 in die USA ging. Ich hatte diverse geräuschhafte Dinge, eine Menge musikalischer Skizzen bei der Beschäftigung mit Akustik und elektronischer Musik dort versucht und ich wollte beim Schloss darauf zurückkommen. Ich habe diese Studien also wieder ausgegraben, um sie als eine Art konzeptionelle Idee und als Klangraum für unser Schloss-Projekt zu erweitern. Die Fallhöhe zwischen dem, was man inszeniert und dem, was man hört und fühlt, sollte groß genug und möglichst fremd sein.
Herbert Kapfer: Das war natürlich auch genau bei der Konzeption intendiert: Deine eigene Vorstellungswelt mit diesem Stoff in Verbindung zu bringen.
Das Schloss – mit was für einem Bild, mit was für einer Vorstellung hast du bei dieser Inszenierung gearbeitet?
Klaus Buhlert: Nosferatu – Murnaus Stummfilm, weil ich irgendwann mal gelesen hatte, dass Kafka diesen Film tatsächlich in diesem Zeitbereich gesehen haben soll. Zweitens Schloss Wossek, das Kafka aus den Erzählungen seines Vaters kannte. Also insgesamt kein Schloss, in dem Sinne, dass es wirklich existiert, es war auch nicht der Prager Hradschin oder so etwas, sondern ein Gedankengebilde, was höchstwahrscheinlich aus den Erzählungen des Vaters über Wossek und dem Eindruck des Nosferatu Films in irgendeiner Weise bei Kafka Spuren hinterlassen hat.
Machtausübung und die Interpretation von Vorschriften, das macht den dramatischen Zündstoff im Schloss aus. Solcher Art sind die Regeln, die der Lehrer im Dorf K. gegenüber, oder auch Frieda gegenüber einfordert. Solcher Art und doch ganz anders sind die Regeln, wie sie der Dorfvorsteher K. gegenüber interpretiert, der mit Mizzi die alten Akten, die vor Jahren verfasst worden sind, aufarbeitet. Auch die Vorschriften sind nicht eindeutig, wie man das in der Mathematik sagt, sondern sie sind eben da und deutbar.
Herbert Kapfer: Und sie sind in ihrer Fülle vielleicht auch gar nicht bekannt.
Klaus Buhlert: Der Dorfvorsteher erklärt es K.: Viel Arbeit ist geleistet worden. Die Hauptmasse (der Akten) habe ich in der Scheune aufbewahrt, der größte Teil ist allerdings verlorengegangen. – Du musst einen Akt suchen, auf dem das Wort „Landvermesser“ blau unterstrichen ist. Welcher Akt und zu welchem Zweck er angelegt worden ist, das interessiert schon lange niemanden mehr. Eine Scheune voller Akten, in denen sich keiner mehr auskennt, kein Bild sagt mehr. Vorschriften und Akten werden wieder zu dem was sie sind, Makulatur.
Herbert Kapfer: Im 12. und letzten Teil des Hörspiels Das Schloss, da fragt die Wirtin K.: „Woher hast du dein Wissen von den Kleidern?“ Was ist deine Lesart?
Klaus Buhlert: Meine Lesart dieses Satzes bei K.’s erstaunlichem Zusammentreffen mit der Wirtin des Herrenhofes: wir haben es im Schloss offenbar tatsächlich nicht mit einem Landvermesser K. zu tun, sondern mit einem Schneider, höchstwahrscheinlich sogar einem Damenschneider, der sich mit Stoffen, mit der Mode der Zeit, auch mit dem alten Stil und dem Ausbessern solcher Kleidung gut auskennt. K. wird aber alles vermeiden, das zuzugeben. Es würde seiner Position im Dorf und seinen Chancen – auch dem Erfolg seines Querulantentums schaden. Ich wäre gespannt, wie das weitergehen sollte im Schloss – aber Kafka hat aufgehört, das Fragment bricht nach genau dieser fraglichen Szene mit der Wirtin und einem kurzen Gang rüber zu Gerstäckers Haus ab. Heißt: die Lesart könnte neue Entwicklungen eröffnen, ist aber nicht nachprüfbar.
(Auszüge aus dem Gespräch Vom Process zum Schloss vom 17.03.2016)
Klaus Buhlert, geb. 1950, Jugend in Sachsen Anhalt, 1972 Auswanderung aus der DDR. Studium der Musik, Akustik und Informatik in Magdeburg, Berlin und Cambridge (USA). 1982 Promotion. 1983–86 Gastprofessur für Elektronische und Computer-Musik an der TU Berlin. 1986 Gründung des eigenen Produktionsstudios in Berlin, seitdem Arbeit als freier Komponist und Hörspielregisseur. BR-Hörspiele und Hörspielregien u.a. Hotels (von Raoul Schrott, 1995, Hörspiel des Jahres), Finis Terrae (mit Raoul Schrott, 1996), Der Irre und der Blinde – Fragment eines Dialoges (BR/DLF 1997), Zarzura (von Raoul Schrott und Michael Farin, 1998), Gilgamesh (von Raoul Schrott, 2001), Der Mann ohne Eigenschaften. Remix (von Robert Musil, 2004, Deutscher Hörbuchpreis), Die Serapions-Brüder (von E.T.A. Hoffmann, 2006), Die Schlafwandler (von Hermann Broch, 2008), Der Process (von Franz Kafka, 2010), Die Blendung (von Elias Canetti, 2013), Meister und Margarita (von Michail Bulgakow, 2014).