Eran Schaerf 1001 Wirklichkeit. Fortsetzungen eines unabgeschlossenen Romans
Tamra
Tamra ist jüdischer Herkunft, in Indien geboren, besitzt einen britischen Pass und landet als Teenager im kolonisierten Kairo der 1930er Jahre, wo ihr Vater Geschäfte macht. Marcel Proust und George Sand sollen sie beflügeln, ja trösten, z.B. darüber, dass sie mit Khadri eine Liebe, aber keine Zukunft haben kann – weil er Ägypter moslimischer Herkunft ist? Und was ist Tamra? Kolonisatorin oder Kolonisierte? Tamra würde sagen: weder das eine noch das andere; Sie vielleicht: sowohl das eine wie das andere.
Unabgeschlossener Roman
Jacqueline Kahanoff (1917–79) hat den Roman Tamra nicht abgeschlossen, vielleicht, weil er sich immer wieder in die Wirklichkeit fortgesetzt hat. Auf der Straße und im Buch, in Kairo und in Paris, in der Bibel und im Fernsehen – wie Tamra ist Kahanoff zwischen nahen und fernen Wirklichkeiten zerrissen. Was im Roman erfunden erscheint, wirkt in narrativen Essays und journalistischen Arbeiten der Autorin biografisch und dokumentarisch. Im Sprung zwischen Erzählformaten entwickelt Kahanoff das Modell einer Gesellschaft von Minoritäten, für den sie den Begriff Levantinismus, an dem die Erinnerung der historischen Kolonialgewalt haftet, wiederaneignet. Die kulturelle Verflechtung der Einwanderungsgesellschaft ist Kern des levantinischen Modells, dessen Erzählung die Weltereignisse nicht allein nach Abraham oder nach Jesus oder nach Mohammed datiert ... „wenn Gott nur ein bisschen eine Frau wäre.“ Die levantinische Zuhörerin Kahanoff gehört mehreren Gemeinschaften an und kann nur im Überqueren der Grenzen zwischen Generationen, Klassen, Geschlechtern, Medien und staatlichen Territorien, Bericht erstatten. Dem Bild des Nationalstaats, der – so schreibt sie 1968 – durch Einwanderungen in Folge des Untergangs des Empires ohnehin bereits dabei ist, sich zu levantisieren, hält sie das Bild eines so definierten levantinischen Gesellschaftsmodells entgegen.
Wahrheitsgehalt von Nachrichten und Hörspiel
Orson Welles’ fiktive Live Sendung War of the Worlds (1938) bewirkte in den USA neben Verwirrung über den Wahrheitsgehalt von Nachrichten und Hörspiel auch Vorschriften, die Live-Formate im Hörspiel verbieten. Demnach wären Hörspiele der inszenierten Fiktion und Nachrichten der Dokumentation verpflichtet.
hör!spiel!art.mix ist ein 2-stündiges, mit Hörspiel, Livebeiträgen und ohne Unterbrechung für die stündlichen Nachrichten programmiertes Format. Welches Erzählformat dokumentiert eine bestehende Gesellschaftsform, welche bringt eine neu hervor? Mit dieser Frage wird Tamra in 1001 Wirklichkeit fortgesetzt, um die Relevanz von Kahanoffs levantinischem Modell im postkolonialen Europa zu proben. Mit Gastbeiträgen aus Kunst, Literatur, Journalismus und Geschichte.
Eran Schaerf: 1001 Wirklichkeit. Fortsetzungen eines unabgeschlossenen Romans
Aufzeichnung eines Live-Hörspiels aus dem Haus der Kulturen der Welt vom 30.05.2014
Konzeptuelle Mitarbeit: Andrea Thal
Mit Beiträgen von: Pauline Boudry, Elfriede Jelinek, Leonhard Koppelmann, Stephanie Metzger, Eva Meyer, Uriel Orlow, Tim Zulauf
Song: Pauline Boudry nach einem Text von Rosario Morales, produziert von Kat Frankie
Stimmen: Pauline Boudry, Matthias Haase, Elfriede Jelinek, Christoph Jöde, Lara Körte, Leonhard Koppelmann, Bettina Lieder Stephanie Metzger, Eva Meyer, Jonas Minthe, Uriel Orlow, Janina Sachau, Samuel Streiff, Katja Strippel
Performance: Kerstin Honeit
Rechercheassistenz: Ofri Lapid
Regieassistenz: Jasmin Schäffler
Ton und Technik: Uwe Lauschke, Thomas Schütt, Mikhail Karikis
Senderegie: Stephanie Metzger
BR Hörspiel und Medienkunst / Berlin Documentary Forum 2014
Projektleitung: Herbert Kapfer und Hila Peleg