Virginia Woolf Jacobs Zimmer
Wenig bekanntes Meisterwerk der Moderne
Eine Schriftstellerin um die Vierzig im Prozess, ihren scharfen Blick auf die Welt, deren Politik und innere Mechanik in erfahrungsnaher Literatur darzustellen. Eine untergehende Gesellschaftsform im England der (Vor-)Kriegszeit und ein junger Mann, der im Ersten Weltkrieg stirbt, noch bevor er seine Persönlichkeit voll entfalten konnte. Virginia Woolf, ihr Gegenstand und der Wunsch nach einem neuen, unmittelbaren Ausdruck: Das sind die äußeren Koordinaten des Romans Jacobs Zimmer, der 1922 erschien und ein wenig bekanntes Meisterwerk der Moderne ist.
Schlag gegen die viktorianische Erzählkonvention
Aus der inneren Logik des Romans entsteht eine faszinierende literarische Erfahrung, eine multisensorische Folge von atmosphärischen Ausschnitten, kurzen Einblicken, vielstimmigen Einschätzungen, die lose chronologisch aneinandergereiht sind. Wir begegnen Jacob als Kleinkind am Strand, erhaschen Eindrücke aus seiner Schulzeit, seinem Studentenleben in Cambridge, sehen ihn durchs nächtliche London zu einer Geliebten gehen oder nach Griechenland reisen. Das Unerhörte daran: Jacob selbst spricht nie und genau das war Virginia Woolfs Schlag gegen die viktorianische Erzählkonvention, in der sie sozialisiert wurde, und deren autoritäre Vorgaben sie zeitlebens angriff. Ihre gelungene Romanerfindung arbeitet erstmals mit einer Art fotografischer Schnitttechnik und zeigt, dass Jacob durchaus da ist: heraufbeschworen, nicht aus der Aufzählung von charakterbestimmenden Fakten und gedrechselten Sätzen eines allwissenden Erzählers, sondern auf geisterhafte Weise in Facetten gespiegelt: in den Blicken, Gedanken- und Gesprächsfetzen seiner Umgebung. Es ist, als blättere man mit angehaltenem Atem durch das Fotoalbum eines Fremden.
So stehen wir heutzutage im Leben, meinte Woolf, so erfahren wir die Welt: Wir gleiten durch eine Abfolge von symbolischen Räumen, durch sprechende Atmosphären, angerissene Szenen und Gesprächsfetzen, und wenn wir sie lesen lernen, verstehen wir vielleicht ein bisschen besser, wer wir sind.
Romanexperiment
Virginia Woolf ist bekannt für ihre schonungslose Selbstkritik, doch mit Jacobs Zimmer, das die Reihe ihrer berühmten Romanexperimente einleitete, war sie durchaus zufrieden: "Ich habe keinen Zweifel mehr, dass ich (mit 40!) herausgefunden habe, wie ich die Dinge in meiner eigenen Stimme ausdrücken kann", notierte sie beim Erscheinen des Romans in ihr Tagebuch.
Virginia Woolf: Jacobs Zimmer (1-4)
Aus dem Englischen von Gaby Hartel
Bearbeitung: Gaby Hartel
Komposition: Jakob Diehl
Regie: Katja Langenbach
BR 2012 | Hörspiel Pool Download
Virginia Woolf, geb. 1882 in London, Autorin und Verlegerin. Bereits durch den Vater Sir Leslie Stephen, Biograph und Kritiker, der freundschaftliche Beziehungen zu fast allen großen Schriftstellern des viktorianischen England unterhält, früher Kontakt mit Literatur und dem Literaturbetrieb. Beginn ihrer Autorentätigkeit als Mitarbeitern für die literarische Beilage der "Times", die sie bis zu ihrem Tode beibehielt. Immer wieder leidet sie an Depressionen. 1912 Heirat mit dem Journalisten und politischen Schriftsteller Leonard Woolf. In dem Haus am Fitzroy Square 29 in London entsteht die sogenannte "Bloomsbury-Gruppe", der bedeutende Schriftsteller wie Desmond Macarthy, Charles Tennyson, Clive Bell, Lytton Strachey, Raymond Mortimer, Hilton Young und John Maynard angehören. 1913 erster Selbstmordversuch. 1915 Romandebüt mit The Voyage Out (Die Fahrt hinaus). 1917 Gründung des Verlags Hogarth Press gemeinsam mit ihrem Mann mit der Spezialisierung auf moderne Literatur aus England, den USA und Russland. 1919 Erwerb des „Monk’s House“ in Rodmell (Sussex), abwechselnde Aufenthalte in London und Sussex. 1922 Beginn einer engen Beziehung zur Schriftstellerin Vita Sackville-West. Zahlreiche Veröffentlichungen von Erzählungen, Romanen und Essays, Ende der 1920er Jahre ist sie eine erfolgreiche und international anerkannte Schriftstellerin. 1939 fester Wohnsitz in "Monk’s House". 1941 erneut tiefe Depressionen. Aus Furcht vor neuen Nervenzusammenbrüchen ertränkte sie sich am 28. März 1941 in Rodmell.
Werke The Voyage Out (Die Fahrt hinaus) 1915, The Mark on the Wall (Das Mal an der Wand) 1917, Kew Gardens (Im Botanischen Garten), Erzählungen 1919, Night and Day (Nacht und Tag) 1919, Monday or Tuesday (Montag oder Dienstag) 1921, Jacob’s Room (Jacobs Zimmer) 1922, Mrs. Dalloway (Mrs. Dalloway) 1925, The Common Reader 1 (Der gewöhnliche Leser 1), Essays 1925, To the Lighthouse (Zum Leuchtturm) 1927, Orlando (Orlando – eine Biographie) 1928, A Room of One’s Own (Ein eigenes Zimmer) 1929, The Waves (Die Wellen) 1931, The Common Reader 2 (Der gewöhnliche Leser 2), Essays 1932, Flush. A Biography (Flush – Die Geschichte eines berühmten Hundes) 1933, The Years (Die Jahre) 1937, Three Guineas (Drei Guineen) 1938, Roger Frey. A Biography 1940, Between the Acts (Zwischen den Akten) postum veröffentlicht 1941.