Der Process Was wir Max Brod zu verdanken haben - und was nicht
Das Hörspiel Der Process ist der Versuch einer maximalen Annäherung an Kafkas nachgelassene Handschriften. Brods Engagement verdient Anerkennung, das Werk wäre sonst für immer verloren gewesen. Gleichzeitig prägte Brods Veröffentlichung mit nachhaltiger, bis in die Gegenwart reichender Wirkung ein falsches Bild von Kafkas Romanprojekt.
Max Brod, der Freund Franz Kafkas, meinte es gut, als er, ein Jahr nach dessen Tod, im Verlag Die Schmiede einen Roman herausbrachte, der genau genommen gar nicht existierte: Der Prozess, 1925 veröffentlicht, begründete tatsächlich den Weltruhm Kafkas. Doch nicht einmal Anfang und Ende dieses Werks können als gesichert gelten, auch nicht der einleitende, seit frühester Lektüre so vertraute und markante Satz:
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Denn der Autor hinterließ nur sechzehn, nicht nummerierte handschriftliche Konvolute, und diese wollte er obendrein vernichtet wissen.
Zu Ende erzählen
Brods Engagement verdient Anerkennung, das Werk wäre sonst für immer verloren gewesen. Gleichzeitig prägte Brods Veröffentlichung mit nachhaltiger, bis in die Gegenwart reichender Wirkung ein falsches Bild von Kafkas Romanprojekt. Er redigierte, schrieb um, montierte und bemächtigte sich so als eine Art zweiter Autor des ja nur rudimentär vorhandenen Werks. Für lange Zeit blieb der Blick auf den Process (wie er in der Schreibweise von Kafka heißt) verstellt:
Dies änderte sich erst 1997, als Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle bei Stroemfeld/Roter Stern im Rahmen der Historisch-Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte Kafkas den Process in einer Form bzw. Edition herausgab, die uns die Unabgeschlossenheit von Kafkas Projekt vor Augen führt und gleichzeitig das Feld der erzählerischen Möglichkeiten sichtbar werden lässt, also zeigt, was aus diesem Process vielleicht einmal hätte werden können.
Es ist ein Editions- und Rezeptionsverständnis, das - jenseits von philologischen Spekulationen und emphatischen Ausdeutungen - dem Leser Formen der Anteilnahme, der Partizipation einräumt und Orientierungshilfen gibt, aber apodiktische Lektürevorgaben vermeidet.
Der Leser wird in größtmögliche Nähe zur tatsächlichen Materiallage geführt: Dem Fragmentcharakter des Werkes und dem Schriftbild mit zahlreichen Korrekturen Rechnung tragend, werden die handschriftlichen Manuskriptseiten neben ihre typographische Umschrift gestellt und die überlieferten Konvolute als solche, nämlich in separaten Heften ohne endgültige Abfolge, publiziert.
Diese Edition und ihr Konzept, die Variabilität eines Werkes transparent zu machen, ist Ausgangspunkt der Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks.
Falsche Inhaltsangabe
Sie sind nur verhaftet, nichts weiter.
Josef K. wird an seinem 30. Geburtstag von Vertretern einer mysteriösen Behörde eröffnet, dass ihm der Prozess gemacht werden solle. Er weiß nicht wofür, jemand muss ihn verleumdet haben. Dennoch akzeptiert K. die Sachlage. Er erkennt die beiden Wächter, die ihn in Gewahrsam nehmen wollen, als Autoritäten an, leistet der ersten Vorladung vor das Gericht Folge und findet sich sogar ein zweites Mal unaufgefordert zum Verhör ein. Er will dem undurchdringlichen Gerichtswesen auf den Grund gehen und sucht fachkompetente Unterstützung beim Advokaten Huld, der Frau des Gerichtsdieners oder dem Gerichtsmaler Titorelli.
Im Verhör beschimpft Josef K. das Gericht als Instanz absoluter Sinnlosigkeit und trifft damit womöglich seinen Kern und im selbstbetriebenen Fortgang des Prozesses verwirklicht sich schließlich ein Gesetz, das nicht die Schuld sucht, sondern von ihr angezogen wird. Josef K. macht sich selbst den Prozess, stellt sich - dem Autor nicht unähnlich - unter einen Generalverdacht der Schuld.
Am Ende fällt K. diesem Prozess zum Opfer und willigt in die Exekution ein. Welcher Leser der von Max Brod herausgegebenen Ausgaben des Romans erinnerte nicht das vermeintliche Ende: Aber an Ks. Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. "Wie ein Hund!" sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.
Nicht dramatisieren
Bereits eine solche kurze Handlungszusammenfassung läuft Gefahr bzw. begeht den Fehler, eine Erzählung linear und chronologisch-kausal nachvollziehbar zu machen, die für den Leser gerade gegensätzliche Erfahrungen bereit hält, nämlich Unauflösbarkeit von Leerstellen und Offenheit von Sinn.
Noch weniger trägt eine solche Zusammenfassung der Entstehung des Werkes Rechnung, die weit entfernt ist von einer systematisch-linearen Vorgehensweise des Autors. Kafka hatte bei der Niederschrift zwar den Rahmen abstecken wollen, doch der Schreibprozess, der sich zwischen August 1914 und Januar 1915 erstreckte, verlief alles andere als stringent. Der Autor arbeitete parallel an mehreren Kapiteln, schrieb unregelmäßig in verschiedenen Heften gleichzeitig und sortierte die einzelnen Textteile immer wieder in neue Konvolute um, ohne dabei eine verbindliche Reihenfolge festzulegen.
Das Hörspielprojekt, das von dieser Materiallage ausgeht, will sich dementsprechend von vorneherein nicht als Adaption oder Dramatisierung begreifen. In der dramaturgischen Diskussion mit dem Regisseur Klaus Buhlert verständigten wir uns früh darauf, audiokünstlerische Mittel nur reduziert und konzentriert einzusetzen, um primär die Eigenarten des kafkaschen Stils und der kafkaschen Sprache hörbar machen.
Nicht korrigieren
Wie bei den handschriftlichen Manuskripten und ihrer Edition im Medium Buch, so sollten sich auch in den akustischen Lesarten sprachliche Suchbewegungen vermitteln.
Das Hörspiel Der Process ist der Versuch einer maximalen Annäherung an Kafkas nachgelassene Handschriften. Dass eine Übertragung des handschriftlichen Textes ins akustische Medium absolut sein könnte oder ohne Verluste möglich wäre, dies wäre freilich angesichts der Skizzenhaftigkeit und der Uneindeutigkeit des Originals illusionär. Die konzeptuelle Strenge mag im Übrigen manchen Schauspielern während der Aufnahmen immer wieder paradox erschienen sein: was für eine Ansage, was für eine Zumutung, eindeutig Falsches nicht zu korrigieren (beispielsweise statt "er läuft" "er lauft" zu sagen, noch dazu im Wissen, dass der Autor, hätte er sein Werk abschließen können, dies letztendlich berichtigt bzw. bereinigt hätte).
Lektüre als Erfahrung
Bei der Entwicklung einer Process-Hörspielkonzeption stellten sich immer wieder Bezüge zu einer anderen großen Produktion her, die Klaus Buhlert mit der Dramaturgie der Redaktion Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks realisiert hatte: gemeint ist der 2004 veröffentlichte zwanzigstündige Mann ohne Eigenschaften. Remix.
Ein Fall mit bemerkenswerten Parallelen, was die Ausgangslage betrifft: bei Musil, der den Mann ohne Eigenschaften als Torso hinterließ, war es Adolf Frisé, der Anfang der fünfziger Jahre eine Ausgabe veröffentlichte, die Musils Werk zu Ende erzählt. Ohne Frisé gäbe es den Mann ohne Eigenschaften, wie er heute bekannt ist, überhaupt nicht. Nicht anders verhält es sich mit Brod und Kafkas Process. Bei der Remix-Produktion diente die damals noch nicht abgeschlossene Kommentierte digitale Gesamtausgabe der Werke Musils als Grundlage.
Beide Hörspiele - Der Mann ohne Eigenschaften.Remix und Der Process - stützen sich auf eine im Wandel begriffene Editionsphilosophie, die sich weg von der Rekonstruktion hin zum offenen Text bewegt. Während der Der Mann ohne Eigenschaften.Remix in künstlerischer Form Musils Romanvorhaben in seiner Gesamtheit zeigen sollte, ging es beim Process darum, ungekürzt sämtliche Kapitel und Fragmente dieses Romanprojekts - auch die vom Autor gestrichenen Passagen - in Audiofassungen zu bringen, mit der Intention, Kafkas Textfragmente "auszuhorchen".
So können sich - das ist zumindest die Absicht und Vorstellung der Produzenten - eigenständige Lese-/Hör-/Erkenntnis-Processe entwickeln. Der Hörer, der Leser ist Akteur. Er ist eingeladen, vertraute Lektürepfade zu verlassen und sich in unübersichtlichen Text- und Sprachklang-Landschaften zu bewegen, er kann ein rudimentäres Werk erkunden und in seiner Unabgeschlossenheit wahrnehmen. Er kann die Variabilität eines unabgeschlossenen Werks erfahren und die Möglichkeiten autonomer Rezeption nutzen. Max Brods Prozeß-Ausgabe steht ohnehin im Regal.