Die Zukunft Europas Pavel Kohout und Tereza Boučková
Pavel Kohout und seine Tochter, die Schriftstellerin Tereza Boučková, gehören unterschiedlichen Generationen von Unterzeichnern der "Charta 77" an. Fast 40 Jahre später sehen sie die Zukunft Europas und seiner Bürgerrechte in Gefahr.
Wenn Tereza Boučková an die berühmte "Charta 77" denkt, dann denkt sie immer auch an die persönlichen Konsequenzen ihrer Unterschrift: Sie war damals 20 Jahre alt und träumte von einem Schauspielstudium, einer Arbeit beim Theater. Doch weil sie ihre Zustimmung zum Manifest für Freiheiten und Bürgerrechte nicht wieder zurückziehen wollte, durfte sie nicht an die Hochschule gehen, sondern musste sich lange Zeit als Putzfrau ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Regime habe sie um ihre besten Jahre gebracht, sagt Boučková nicht ohne Verbitterung, andererseits habe die Charta der schlimmen Zeit bis zur Revolution 1989 auch einen Sinn gegeben.
Kompliziertes Vater-Tochter-Verhältnis
Die junge Boučková unterschrieb damals zusammen mit ihrem Vater, dem berühmten Dramatiker und Autor Pavel Kohout. Er war für die Staatsorgane kein Unbekannter: Während des Prager Frühlings hatte er sich auf die Seite der Reformer geschlagen, war aus der KP ausgeschlossen und mit Publikationsverbot belegt worden. Als Mitautor und Unterzeichner der "Charta 77", die im Januar 1977 in westlichen Zeitungen publiziert wurde, bekam er es mit weiteren Schikanen zu tun. Von einer Wien-Reise durfte er schließlich nicht wieder nach Prag zurückkehren und war damit ausgebürgert.
Die komplizierte Beziehung zum Vater hat das eigene schriftstellerische Werk von Tereza Boučková geprägt. Ihr Debütroman "Indianerlauf", erschienen Ende der 80er-Jahre im Samisdat, beschreibt den Vater als fernen Menschen, der sie und ihre Mutter für eine andere Frau verließ und im westlichen Exil besser leben konnte als seine früheren Mitstreiter. Die Presse bezeichnete den Roman als "Rachebuch", Pavel Kohout sprach differenzierter von einem Buch der "Hassliebe". Dennoch blieb das Verhältnis zwischen beiden gespannt. Im Frühjahr traten Kohout und Tereza Boučková nun erstmals gemeinsam in Deutschland auf - im Literaturhaus München. Thema war der neue Roman Boučkovás, "Das Jahr des Hahns". Der Titel spielt auf die chinesische Astrologie, aber auch erneut auf die Vaterfigur an: Kohout ist das tschechische Wort für Hahn.
Die Subversion eines Wohnzimmer-Theaters
Im Vordergrund von Boučkovás Buch steht zwar ein anderes familiäres Thema - die Geschichte von ihrer Adoption zweier Roma-Kinder und deren schwierigem Aufwachsen. Doch in Rückblenden wird auch die Zeit der legendären "Charta" noch einmal aufgerufen. Etwa, wenn Boučková, die damals zum Ensemble gehörte, von den legendären Prager Wohnzimmer-Aufführungen von "Play Macbeth" erzählt, einer Shakespeare-Bearbeitung Kohouts. Das Stück über Macht und Machtmissbrauch, Tyrannei und den Fall des Tyrannen war der Staatssicherheit natürlich nicht genehm, nach einigen Vorstellungen stürmte sie die Wohnung und nahm die Beteiligten in Gewahrsam. Doch das subversive Treiben war auf Film festgehalten worden. Über diesen Film wird es erneut in die Erzählgegenwart des Romans geholt: in einer durchaus komischen Szene mit einer Theaterwissenschaftlerin, die vor der Vorführung mitteilt, was sie alles über die Geschichte des Wohnungstheaters herausgefunden habe - statt die noch "lebenden Akteure" zu fragen, die sie vor sich hat.
"Shakespeares Macbeth in Vaters Inszenierung, oder Play Macbeth. [...] Die Umstände waren bewegte Zeiten. Wohnungstheater wurde ein Jahr nach der Entstehung der Charta 77 gespielt und der Film wurde gedreht, nachdem die Polizei uns aus allen Wohnungen verjagt, beziehungsweise gar nicht erst hineingelassen hatte. Sie sperrten uns ein, verhörten und jagten uns. Gedreht wurde bei der Schauspielerin, und ihr Mann, Kameramann ohne Arbeit, der überall entlassen worden war, machte alles selbst – arrangierte die Aufnahmen, machte die Beleuchtung, drehte und durfte dabei keine Fehler machen, weil er so wenig Filmmaterial hatte, dass alles beim ersten Mal sitzen musste. Das Ganze war schrecklich konspirativ und bei der Hälfte des Films (wir hatten dafür zwei Wochenenden!) wurde Landovský von JEMANDEM in der Nacht überfallen. Er war als beliebter Schauspieler aus beliebten Filmen noch immer populär, obwohl er nirgendwo spielen durfte, weder im Fernsehen noch im Film noch im heater. Je beliebter er beim gemeinen Volk war, desto weniger ertrugen ihn die kommunistischen Machthaber. Jemand überiel ihn auf der Brücke und wollte ihn in den Fluss werfen. Landovský verkeilte sich ins Geländer und brach sich dabei ein Bein."
aus: Das Jahr des Hahns, aus dem Tschechischen von Ulrike Helmke unter Mitarbeit von Raija Hauck, Karl Rauch Verlag 2015
Werte und Kompromisse
Die "Charta 77" forderte in der Tschechoslowakei jene Bürgerrechte ein, zu deren Einhaltung sich das Land mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 verpflichtet hatte, und stellte sie der Realität im Staatskommunismus gegenüber. Freiheit der Meinungsäußerung, der Berufswahl oder des Bekenntnisses, das waren die Werte, um die es damals ging. Und für Kohout und Boučková sind sie aktuell wieder gefährdet. Das vereinigte Europa sei für ihn noch immer ein Wunder, sagt Pavel Kohout, etwas, das man früher ins Reich der Träume verwiesen hätte. Und dass heute in unterschiedlichen Staaten nationalistische und antidemokratische Kräfte an Einfluss gewinnen, die den Wert dieses Wunders gar nicht zu kennen scheinen, hat auch etwas mit Geschichtsvergessenheit zu tun. Nicht nur in Großbritannien, auch in Tschechien könnte es Mehrheiten für einen Austritt aus der EU geben - immer häufiger ist vom "Tschexit" die Rede.
Doch unsere Zukunft liegt in einem vereinigten Europa, darin sind sich Kohout und Boučková einig. Und die europäischen Werte sind Errungenschaften, die ganz grundsätzlich und ganz alltäglich im politischen Tagesgeschäft zu verteidigen sind. Das ist nicht einfach und geht nicht ohne Interessensabgleich. Für Pavel Kohout gibt es noch ein weiteres, wohl eher unscheinbares Wunder: den Kompromiss. Europäische Institutionen werden oft dafür gescholten, sich nur auf Kompromisse einigen zu können, der Schriftsteller dagegen nennt den Kompromiss mit einigem Pathos das "Lebenswasser der Existenz": Nur durch ihn könne eine Gesellschaft überhaupt existieren. Auch das habe die Niederschrift der "Charta 77" gelehrt, für die sich ganz unterschiedliche Köpfe auf einen Text einigten, um damit eine Setzung zu machen. Und für diese dann allerdings kompromisslos einzustehen.
Kulturjournal
Für das Kulturjournal porträtiert Niels Beintker Pavel Kohout und Tereza Boučková. Zu hören ist sein Beitrag in der Sendung am Sonntag, den 19. Juni 2016 ab 1805 Uhr.