Neneh Cherry Raw like Sushi
Sie ist unser Stargast beim "Past Present Future"-Festival des Zündfunks am 26.April im Münchner Funkhaus. Und wenn es eine Sängerin gibt, die auf eine bewegte und Referenzen-reiche Geschicht zurücklicken kann, dann sie.
Neneh Mariann Karlsson wird am 10. März 1964 in Stockholm in einen Hippie-Haushalt geboren. Ihre Mutter Moki ist Malerin. Ihr Vater - der Schlagzeuger Ahmadu Jah – verlässt die Familie noch vor ihrer Geburt. An seine Stelle tritt der Jazz-Trompeter Don Cherry, Freejazz-Genie und Kollege von Ornette Coleman und John Coltrane. Neneh nimmt seinen Namen an, heißt fortan also Neneh Cherry. Der Jazz bestimmt das Leben der Familie, erzählt Cherry im Zündfunk-Interview:
"Es war wie Luft, etwas so Selbstverständliches. Diese Musik, der Jazz, ist Teil des Lebensgefühls, das ich als Kind erfahren habe. Sie ist ein Teil von mir geworden. Wenn ich heute zum Beispiel Thelonious Monk höre, dann kriecht er förmlich unter meine Haut. Aber ich musste erst älter werden, um diese Musik wirklich wertschätzen zu können."
Neneh Cherry
Die Familie führt ein Leben "on the road": Sie zieht nicht nur ständig um, von Schweden nach London, nach New York - wo Don Cherry lehrt - sondern tourt auch unermüdlich. Neneh Cherry hat dieses Leben auf der Bühne in guter Erinnerung - aber nicht nur: Die Familie hat oft kein Geld. Don Cherrys Drogenprobleme werden offensichtlich. Ein Vater, der im Zug die Trompete auspackt, ist peinlich. Mit acht Jahren rebelliert Neneh gegen das Hippie-Elternhaus. Ihre Zukunftsvision: Einen Polizisten heiraten, einen Schäferhund haben und in einem kleinen Backsteinhaus leben.
Es erstaunt Neneh Cherry erst einmal, als sie feststellt, dass ihre Freunde die Musik ihres Vaters hören. Mit diesen Freunden gründet sie in London die Band Rip Rig & Panic. Eine legendäre, unberechenbare Band, die das Erbe der politisch radikalen Pop Group um Mark Stewart antritt. Das Musikerkollektiv mischt Post-Punk, Jazz und Avantgarde mit Soul, Funk und Afro-Pop-Anleihen. Neneh Cherry tritt Rip Rig & Panic bei, nachdem sie mit 14 Jahren die Schule geschmissen hat und mit Don Cherry nach London gezogen ist. Dafür sind Public Image verantwortlich: Neneh Cherry sieht die Band 1978 auf einem Dach in der Kings Road spielen. Danach ist nichts mehr wie vorher:
"Ich entdeckte Punk als ich 14 war. Ich war für zwei Tage mit meiner Mutter in London, um einen Billigflieger nach New York zu kriegen. Wir wohnten bei Freunden und die nahmen mich mit in die Kings Road. Und ich sagte: DAS ist es! Es war wie eine Befreiung! Und als ich London 48 Stunden später verließ, hatte ich flammend rote Haare."
Neneh Cherry
Der rohe Ausdruck, das "Do it yourself" des Punks kennt Neneh Cherry vom Freejazz und findet es auch im gerade in den Mainstream schwappenden HipHop wieder. Sie zieht mit Ari Up von den Slits zusammen. Die hatten ihren Vater eingeladen mit auf Tour zu kommen und Neneh begleitete ihn. Die Teenagerin probiert sich in verschiedenen Bands aus - darunter die Cherries, das legendäre Dub Reggae-Kollektiv New Age Steppers und die schon erwähnten Rip Rig & Panic. Schließlich startet sie ihre eigene Karriere, nachdem sie ihren späteren Ehemann Cameron McVey kennen gelernt hat. Das Paar schreibt die Songs zusammen und gleich die erste Single wird ein Hit und landet in den internationalen Charts: "Buffalo Stance".
Mit beiden Füßen fest in den Sneakers
Neneh Cherry ist ein Shooting Star. Und zwar ein hochschwangerer Shootingstar. Ihr Auftritt bei Top of the Pops löst einen mittleren Skandal auf der Insel aus. 1988 war eben noch die Zeit, in der eine sichtbar schwangere Frau auf der Bühne für einen Sturm der Entrüstung sorgen konnte. Für Neneh Cherry aber ist es der erste Schritt zum Role-Model: Selbstbestimmt, feminin, immer mit beiden Füßen fest in den Sneakers.
"Dann wurde 'Buffalo Stance' dieser verrückte Hit. Es ging alles furchtbar schnell und wir waren überhaupt nicht darauf vorbereitet. Mein Mann Cameron war der Manager. Ich war schwanger. Wir baten dann Freunde uns zu helfen, die übernahmen das Styling und so. Wir waren ein verrückter Haufen, wie wir da durch die Gegend zogen - wie seltsame Nomaden."
Neneh Cherry
Neneh Cherry meistert ihren Erfolg mit Baby im Arm: Das Video zu "Manchild" dreht sie kurzerhand mit Handtuch auf dem Kopf und dem Nachwuchs über der Schulter. Auch im Fernsehinterview sieht man sie mit ihrer Tochter Tyson vor den Bauch geschnallt. Es ist fast wie in Neneh Cherrys eigener Kindheit: Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Leben.
Beim Hit aus dem Jahr 1989, "Manchild", ist wie immer Neneh Cherrys Mann Co-Autor, sowie ein gewisser 3D, der später mit Massive Attack massiv von sich reden machen wird. Woran wiederum Neneh Cherry und ihr Mann nicht ganz unschuldig sind. Cameron McVey produziert Teile des Debütalbums "Blue Lines" und das Paar stellt außerdem seine Küche als Aufnahmeort und Schlafplatz zur Verfügung. Neneh Cherrys eigenes Debütalbum "Raw like Sushi" soll ebenfalls in die Musikgeschichte eingehen für seine frische Mischung aus R&B, Pop, Dance und nicht zuletzt HipHop.
"I've got you under my Skin"
1992 sieht die Veröffentlichung von Cherrys zweitem Album "Homebrew". Zuvor hatte Neheh Cherry mit der Coverversion "I've got you under my Skin" für den Aids-Benefiz-Sampler "Red Hot + Blue" einen weiteren Hit gehabt. "Homebrew" kann nicht an den Erfolg von "Raw like Sushi" anknüpfen, obwohl es nicht schlechter ist. Es vereint HipHop, Pop, Soul und ja: TripHop.
Die TripHop-Idee findet auch auf Cherrys dritten Album "Man" Eingang. Es beweist schon einen guten Humor, das Album "Man" zu taufen, auf dem Cover aber nur Frauen abzubilden und den eigentlichen Titeltrack "Woman" zu nennen - eine Antwort auf James Browns "It's a Mans Mans World". "This is a womans world" also. Es ist aber immer noch eine Welt, in der das Magazin DER SPIEGEL in einem Artikel über die neuen jungen Feministinnen ein Foto von Neneh Cherry mit "Pop-Babe" untertitelt. "Woman" erreicht Platz neun der britischen Charts.
Schon zuvor war Neneh Cherry wieder an der Spitze der Charts zu finden. Cherry hatte auf einem Festival in Schweden den senegalesischen Sänger Youssou N'Dour kennen gelernt. Sie beschlossen, einen Song in drei Sprachen zu singen: in Englisch, Französisch und Wolof, der Hauptsprache Senegals. Das stieß bei der Plattenfirma nicht gerade auf offene Ohren. "7 Seconds" wurde aber weltweit ein Hit und Youssou N'Dour 2012 Kulturminister im Senegal.
This is a womans world
Neneh Cherry macht 17 Jahre Pause vom Rampenlicht, ist aber mit der Familienband CirKus und als Gastsängerin unterwegs.
"Man" entsteht unter dem Eindruck des Verlusts von Stiefvater Don Cherry. Die Familie Cherry McVey war nach Spanien gezogen, Don Cherry verbrachte hier die letzten Monate seines Lebens. Neneh erwartet ihr drittes Kind und nimmt sich eine Auszeit. Es soll ganze 17 Jahre dauern bis wieder eine Solo-Platte von ihr erscheint.
"Am liebsten würde ich sagen, ich hätte in der Zeit irgendeinen tollen Abschluss gemacht. Aber nix da. Doch die Musik blieb immer Teil meines Lebens. Nach dem dritten Album habe ich immer gesagt, nächstes Jahr mache ich ein neues. Und nächstes Jahr wieder. Dann wurden es 17 Jahre."
Neneh Cherry
17 Jahre verschwindet Neneh Cherry aus der Öffentlichkeit. Das heißt nicht ganz: Sie hat eine Art Familienband mit Mann und Stiefsohn namens CirKus. Sie betreibt zusammen mit McVey ein Studio und ein Musikmanagement. Sie ist Gastsängerin bei Peter Gabriel, Pulp, den Gorillaz, um nur einige zu nennen. Sie ist also nicht untätig, sie hat das Musikbusiness nur einfach satt, wird kolportiert.Doch dann stirbt 2009 überraschend Neneh Cherrys Mutter. Sie beginnt heimlich wieder Texte zu schreiben, weil der Verlust irgendwie bewältigt werden muss.
"Der Tod meiner Mutter hat mich in eine tiefe Depression gestürzt. Ich musste einfach wieder Songs schreiben. Ich kannte The Thing, sie waren Fans von Dons Musik. The Cherry Thing war ein guter Start nach der langen Pause: Ein Album mit Coverversionen. Aufnahmen bei denen man nicht lange diskutieren muss: Wir spielten die Stücke in zwei oder drei Takes ein. Und ich dachte: Ja, ich erinnere mich!!!! Es fühlte sich an, als hätte ich Flügel bekommen."
Neneh Cherry
Neneh Cherry veröffentlicht 2012 zusammen mit dem schwedischen Freejazz-Trio The Thing die Platte "The Cherry Thing". Die Platte erscheint auch als Remix-Album, mit "Dream Baby Dream" in der Bearbeitung des britischen Elektrobastlers Four Tet als poppig-abstraktes Highlight. Four Tet ist Neneh Cherrys Wunschkandidat, um neue Platte zu produzieren.
"Mit Kieran Hebdan war es wirklich so: Der oder keiner! Und Gott sei's gedankt, konnte er die Platte produzieren. Hand aufs Herz: Ich bin ein Fan!"
Neneh Cherry
Blank Project
Und Kieran Hebdan alias Four Tet hat Zeit. Allerdings nur fünf Tage. Neneh Cherrys erstes Solo-Album nach 17 Jahren wurde also in nur fünf Tagen aufgenommen und fertiggestellt. Natürlich waren die Stücke schon in Skizzen vorhanden: Neneh hatte die erarbeiteten Vocals an das Brüderpaar RocketNumberNine geschickt, ein angesagtes Elektronik-Impro-Duo und Freunde von Four Tet. 2011 durften sie auf Thom Yorkes persönlichen Wunsch im Vorprogramm von Radiohead auftreten. "Blank Project" wird im geschichtsträchtigen Woodstock aufgenommen.
"Aber nicht weil Woodstock ein Ort mit schrecklich viel Aura ist. Kieran Hebdan lebt einfach zeitweise dort. Er hatte nicht viel Zeit wegen seiner Familie, ich genauso wenig. Also sind wir hingefahren und haben das Album in nur fünf Tagen aufgenommen. Darüber bin ich eigentlich froh, denn dadurch hat das Album eine gewisse Unschuld behalten, weil wir nicht so viel dran schrauben und basteln konnten."
Neneh Cherry
Mit "Blank Project" schließt sich ein Kreis, könnte man sagen. Denn das Wilde, Rohe, der Stream of Consciousness der Lyrics erinnern an Neneh Cherrys erste Band Rip Rig & Panic.
"Es ist wichtig über etwas zu singen, was du auch meinst, finde ich. Es muss aber nicht kompliziert sein. Es sind viele Lyrics auf dem Album, die fast wie ein Stream of Consciousness funktionieren. Mehr Poesie als Geschichten. Mehr Befreiung als Betrachtung."
Neneh Cherry
Neneh Cherry hat sich befreit, in mehrerer Hinsicht: Sie hat den Tod ihrer Mutter verarbeitet und sie ist der Popmaschinerie entkommen: Von der chartstauglichen "7 Seconds"-Neneh Cherry ist nichts mehr übrig. Zum Glück, denn das unterscheidet Neneh Cherry dann doch von Madonna & Co: Sie hat Würde. So gab sie der Musikzeitschrift Spex zu Protokoll: "Wenn du mich früher mal gefragt hättest, wo ich sein will mit 50 - ich bin jetzt genau da."