Jim Dickinson Zum 70. Geburtstag eines heimlichen Stars
Lässig, progressiv, kreativ: Der amerikanische Produzent und Studioguru Jim Dickinson stand nie in der ersten Reihe der Rockmusik. Doch sein Einfluss reicht tief hinein in den Sound der 70er. Das Nachtmix-Playback blickt zurück.
Jim Dickinson wird am 15. November 1941 in Arkansas geboren, wächst in Memphis, Tennessee auf und studiert schließlich in Texas Bühnenbildnerei, um dann im nun heimatlichen Memphis ein Theater zu leiten. Nebenher versucht er sich als Sessionmusiker und ist 1966 als Pianist wie auch als Sänger auf einer der letzten Aufnahmen von Sam Phillips' SUN-Label zu hören, The Jesters hieß die kurzlebige Garagen-Band.
Drei Jahre später hat Dickinson die auf Tournee befindlichen Rolling Stones von Memphis ins benachbarte Alabama umgeleitet, wo sie ohne Union Card in einem Studio aufnehmen dürfen: Es handelt sich um die ersten Sessions für das Album "Sticky Fingers" und Dickinsons Klavier schafft es durch alle Mixe. Aus dieser Begegnung entsteht ein ständiger Kontakt zu Warner-Produzenten Jerry Wexler; aus einem Klavier-Solo wird eine Back-Up-Band, die Dixie Flyers, welche von Aretha Franklin bis Lulu viele Warner-Aufnahmen der Zeit um 1970 veredelt. Als die Dixie Flyers 1972 eine eigene Platte machen sollen, implodiert die Gruppe. "Dixie Fried" erscheint als erste Solo-LP von James Luther Dickinson und verweist auf seine Absicht, ganz traditionelle Musiken wild und gegenwärtig und gar avantgardistisch klingen zu lassen.
Die oft rabiate Musik von James Luther Dickinson, im Hintergrund koloriert von Antonin Artauds „Theater der Grausamkeiten“-Theorien, zieht in und um Memphis die etwas dunkleren Typen der Szene an: und mit "dunkler" ist nicht die Hautfarbe gemeint. Zum musizierenden Freundeskreis gehören bald Tav Falco und Alex Chilton, da brennt des Nachts der Panther. Nach der Fertigstellung der lange regulär unveröffentlichten "Big Star 3"-LP verbringt Dickinson die Nächte in Memphis mit dem alkohol- und tablettenkranken Chilton in endlosen Jams, aus denen das notorische "Like Flies on Sherbert" von Alex Chilton hervorgeht, die radikale Absage an jede Verwertbarkeit.
Diese Lässigkeit im Umgang mit der Musik und den Zwängen des Business wird zum Markenzeichen für Jim Dickinson als Produzent, das eingebaute kommerzielle Scheitern ist so etwas wie ein Gütesiegel.
Scheitern als Gütesiegel
Noch glaubwürdiger konnte man nicht sein - und alle betteln um etwas Studiovernachlässigung durch Dickinson: Willy DeVille, R.E.M., Spiritualized, Mudhoney, Green on Red, Rocket From the Crypt, Jason & the Scorchers, T-Model Ford oder gar Toots & The Maytals und natürlich die Replacements.
Jim Dickinson leistet sich neben all seinen Produzenten- und Studiomusiker-Jobs dann und wann eine eigene Band; am wenigsten unbekannt sind Mudboy & The Neutrons. Doch im Umgang mit Panther Burns oder Alex Chilton kommt die andere Seite eines Jim Dickinson, kommt die konservatorische Ader nur unvollständig zur Geltung: Er ist aber ein begeisterter Sammler alter Musiken, uralter Musiker und noch urälterer Stile, eine Leidenschaft, die er mit seinem Freund Ry Cooder teilt und sowohl auf dessen Frühsiebziger-Platten als auch bei gemeinsamen Sessions ausleben kann, etwa mit Blues-Legende Sleepy John Estes. Die daraus resultierenden Field Recordings, aber auch Dickinsons musikalische Beiträge zu Spiel- und Dokumentarfilmen erscheinen auf einer von Dickinson selbst herausgegebenen "Delta Experimental Project"-Reihe.
Soundtracks und Sessions
Am einträglichsten für Dickinson dürfte allerdings seine langjährige Tätigkeit für Ry Cooders Soundtrack-Arbeiten gewesen sein: Wegen der Filmmusiken für Walter Hill, aber auch für "Paris, Texas" von Wim Wenders, wird der eine oder andere Tantiemenscheck das Leben des älter, weißhaariger und rundlicher werdenden Jim Dickinson leichter gemacht haben.
Platten mit Jim Dickinson als Mitwirkendem gibt es also viele, unter eigenem Namen erschien nur ein halbes Dutzend, eine davon eine Sprechplatte. Dickinson hing nämlich der Meinung an, es gebe eh schon genug gute Songs, man müsse keine neuen mehr schreiben und aufnehmen. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass nur ein einziges Lied mit seinem Namen in den Credits so etwas wie ein Klassiker geworden ist: "Across the Borderline". Wie stolz es Jim Dickinson gemacht hat, dass selbst Bob Dylan dieses Lied live gespielt hat, hört man seiner Stimme an, als er den Song 1992 bei einem Live-Auftritt mit Chuck Prophet ankündigt - aber als Dickinson diesen Song ansagt, kann er noch nicht ahnen, dass ihn ein paar Jahre später Daniel Lanois anrufen wird, um ihn zu den Sessions für das Dylan-Album "Time Out of Mind" einzuladen, wo er zusammen mit Augie Myers für alle Gerätschaften mit Tasten zuständig sein wird.
Die hohe Wertschätzung, die Musiker und Plattenfirmen Jim Dickinson auf der ganzen Welt entgegenbrachten, steigerte sich durch diesen Job schon fast ins Legendenhafte. Im August 2009 war dieses vorbildliche Leben im Rock’n'Roll dann zu Ende.