Bayern 2 - radioTexte


5

Jens Wawrczeck liest Théophile Gautier: Avatar

Schauerromantik meets Phantastik-Farce: Zwei Seelen tauschen, ach! ihre Brust. Gautiers Kurzroman von 1857 über einen Seelentausch berührt bis heute wunde Punkte irdischer Existenz: Wer oder was bin ich?

Stand: 19.09.2023 | Archiv

Symbolbild Seelentausch | Bild: Spectra shotshop pa

"Wenn es mir gefällt, knülle ich das Stück Lumpen, das man Körper nennt, zusammen, halte das Leben an oder beschleunige es, verwirre die Sinne, hebe den Raum auf und neutralisiere den Schmerz, ohne dass ich dafür Chloroform, Äther oder sonst irgendeine betäubende Droge bräuchte. Nur mit dem Willen als Waffe, nur mit jenem elektrischen Funken des Intellekts schaffe ich Leben oder vernichte es."

Théophile Gautiers

Nein, Avatare sind keine Erfindung der World Wide Web-Ära. Der Begriff stammt aus dem Sanskrit, aus sogar vorchristlicher Zeit, und bezeichnet in den ältesten indischen Schriften die menschliche Manifestation des göttlichen Vishnu. Der übrigens oft blau dargestellt wird. Ob Hollywood-Regisseur James Cameron vor seinem Blockbuster „Avatar“ (2009) zufällig Theophile Gautiers Kurzroman „Avatar“ gelesen hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls existiert bereits seit 1857 eine „Avatar“- Story, die spannend, stilvoll und verschmitzt einen Seelentausch zweier Pariser Herren ausfantasiert.

"Die Wissenschaft - zumindest die herkömmliche europäische - ist in diesem Fall völlig hilflos: es war allerhöchste Zeit, dass Sie sich an mich gewandt haben, denn Ihre Seele hängt nur noch mit einem Seidenfaden an Ihrem Leib. Wir aber werden daraus einen festen Knoten binden, sagte der Arzt."

Aus: Théophile Gautiers Avatar

Octave de Saville siecht dahin. Der junge Mann leidet an offenbar unheilbarem Liebeskummer zur Gräfin Labinska. Die ist jedoch glücklich verheiratet. Ihre Abfuhr scheint sein Ende zu besiegeln. Bis der exzentrische „Arzt der Seelen“ Doktor Balthazar Cherbonneau in Octaves apathisches Leben tritt und ihm von seiner Zeit in Indien berichtet, wo er „archaisches Wissen“ studierte. Dieser Wunderarzt offeriert ihm nichts Geringeres, als einen Seelentausch durchzuführen – Octaves Seele in den Körper des Grafen Olaf Labinski zu transferieren und umgekehrt!

Wo höre ich auf, wo fängt mein Avatar an?

Der E.T.A. Hoffmann-Fan Gautier (1811 – 1872) stellt bereits mit seiner so frühen phantastischen Geschichte die Identitätsfragen, die uns heute – ausgestattet mit digitalen Ichs, verschönernden Face-Filtern und Avataren – immer noch beschäftigen. Helfen die künstlichen Ichs wirklich weiter bei der Suche nach Sinn oder Glück? Daneben beweist der langhaarige Autor und Mitbegründer des „Klubs der Haschischesser“ mit „Avatar“, dass er up to date war hinsichtlich Wissenschaft (Mesmerismus), Hinduismus und der Schönen Künste, vermischt mit Lust und Luftigkeit Elemente der Schauerromantik mit phantastischen und ist sich für abschließende Scherze nicht zu schade. Für Kulthörspielinterpret (???), Krimihörbuchverleger und vielfach preisgekrönter Sprecher Jens Wawrczeck war dieser Roman genau die richtige Herausforderung.

Vergnüglich, nachdenklich, romantisch und modern:

Drei Auszüge aus Théophile Gautiers „Avatar“ in der Übersetzung von Jörg Alisch, erschienen bei Mattes & Seitz Berlin. Es liest Jens Wawrczeck. Regie: Irene Schuck / Moderation: Kirsten Böttcher / Redaktion: Kirsten Böttcher und Judith Heitkamp


5