Winter 1942 in Novi Sad "Nacht im Bioskop" - eine Erzählung von Clemens Meyer
"In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod", unter diesem Titel kuratierte Clemens Meyer 2014 das forum:autoren in München. Dieses Motto könnte auch über dem literarischen Werk des Leipziger Schriftstellers stehen wie etwa in "Als wir träumten", seinem Debüt, oder "Im Stein". In der Erzählung "Nacht im Bioskop" montiert Clemens Meyer das Massaker von Novi Sad mit Filmausschnitten, die dort gleichzeitig in einm Kino laufen. Bei dem Kriegsverbrechen wurden vom 21. bis 23. Januar 1942 über Tausend Zivilisten getötet und in die Donau geworfen.
"Nacht im Bioskop"
"Unterm Eis eines großen Flusses, der durch eine sehr alte Stadt in der südöstlichen Mitte der Welt floss, trieb eine junge Frau. Sie blieb an den Resten eines festgefrorenen Fischer-netzes hängen, und ihr blondes Haar fächerte sich weit um ihren Kopf, und die Strömung des Flusses nahm ihr langes blondes Haar und bewegte es bis zu ihren Hüften, und unterm brüchigen Eis des Flusses sah es so aus, als hätte sie Flügel oder als würde sie in fließender Bewegung gegen den Strom schwimmen."
aus 'Nacht im Bioskop', Verlag Faber und Faber
So beginnt Clemens Meyers Erzählung "Nacht im Bioskop". Ist es nur ein Filmausschnitt im Kino oder ist die junge Frau bereits Opfer der grausamen Ermordung von serbischen und jüdischen Zivilisten, die in der multiethnischen Stadt Novi Sad, an dieser Kreuzung von Fluss-, Straßen- und Handelswegen, europäischer und orientalischer Kulturen, in die Donau geworfen wurde? In der Stadt, in der Ungarn, Kroaten, Slowaken, Ruthenen, Griechen, Cincars, Juden, Rumänen und Roma lebten. "Diese freie Stadt ist ein berühmtes Beispiel dafür, was Toleranz und Handel bewirken können", heißt es in einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert. Und Novi Sad, eine Mischung aus serbischer Kultur und österreichisch-ungarischer Architektur, war auch eine der ersten Städte Europas, in der es ein Kino gab.
"Die Filme und Bilder und Spieler schieben sich ineinander, Chaplin, Cowboys, große Dramen, Autos und Kutschen, denn er hat Tage im Bioskop von Novi Sad verbracht. Er hat auf dem harten Klappstuhl aus Holz gesessen, der bei jeder seiner Bewegung knarrte, inmitten einiger anderer knarrender Bioskopbesucher, und als der Film begann, ein alter Mann saß an einer kleinen Orgel neben der Leinwand und spielte seltsame Melodien, die mal zu den stummen Bildern passten und mal nicht, da wusste er, dass er nie wieder etwas ähnlich Überwältigendes sehen würde und spüren würde, die Wirklichkeit verschwand, und die Wirklichkeit erschien."
aus 'Nacht im Bioskop'
Cornelia Zetzsche im Gespräch mit Clemens Meyer
Cornelia Zetzsche: "Wir folgen in Nacht im Bioskop einem Mann im Pelzmantel, Ihrem mysteriösen, auch etwas gespenstischen Helden mit visionären Fähigkeiten durch das eiskalte Novi Sad, das die Achsenmächte, die Ungarn vor allem, als Verbündete der Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzt halten. Was inspirierte, was motivierte, ich glaube, Sie sagen: influencte Sie zu dieser Geschichte?"
Clemens Meyer: "Ich war 2015 für längere Zeit in Serbien mit einem Stipendium, in Belgrad, und kam dann auch nach Novi Sad und stieß dabei auf diese Geschichte des Massakers von Novi Sad, was Anfang des Jahres 1942 dort stattfand, und dass man dort Leute lebendig unter das Eis der zugefrorenen Donau bei minus 20 Grad gestopft hat. Ich fühlte mich da irgendwie gezwungen, darüber zu schreiben."
"Welche Rolle spielen die historischen Fotos, die man auch im Buch sieht, historische Fotos von Novi Sad?"
Novi Sad - das "serbische Athen"
"Das war eine wunderschöne Stadt, ist es auch heute noch, das konterkariert sozusagen auch ein bisschen das Unglück, was über diese Stadt da hineinbricht im Januar 1942, also die Fotos aus einer heilen Welt aus einem Frieden, der dann 1942 schlagartig zu Ende war."
"Ihr Held, dieser Mann ohne Namen, im Pelzmantel, weiß vieles im Voraus, bewegt sich an verschiedenen Orten, ohne dass man genau erfährt, wie er da hinkommt, zum Beispiel in eine Wohnung. Er bewegt sich zwischen den Zeiten. Was ist das für eine Figur?"
"Ja, das scheint erst mal so eine Art Beobachter zu sein. Später behauptet er oder weist sich aus als ein Mitglied der faschistischen kroatischen Ustascha-Bewegung, die auch mit den Ungarn und Deutschland verbündet waren, zu dieser Zeit. Man weiß aber nicht, ob er ein doppeltes Spiel spielt. Da ist vieles offen, ja."
"Warum wird ausgerechnet ein Kino, ein Bioskop zum Zentrum? Ich hätte jetzt auch gesagt zur Zuflucht, ich habe an die Rettung geglaubt. Warum wird das zum Zentrum?"
"Es ist schon die Zuflucht, natürlich. Das hängt damit zusammen, dass ich über die Bioskope des ehemaligen Jugoslawiens recherchierte und es auch sein kann, dass diese Geschichte, diese Erzählung in dieses große Romanprojekt einfließen wird, irgendwann, und die Erzählstränge sogar noch weiter verfolgt werden. Aber das Kino schien mir ein plausibler Ort zu sein, inmitten so eines Grauens, dass da plötzlich etwas aufleuchtet, ein Projektor bringt Bilder, Fiktionen, Träume auf die Leinwand für ein paar wenige Menschen, denen ist es vergönnt, da Schutz zu finden, während drumherum das Grauen weitergeht. Und in diesem Bioskop, denn so hießen oder heißen die Kinos teilweise noch in vielen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, findet eine Art Traumwelt statt, eine Gegenwelt, in die sie sich flüchten können."
"Ihre Erzählung ist von großer Intensität, von großer Dichte. Warum und wie fanden Sie für die Gewalt, die Sie nicht konkret beschreiben, so eine poetische Sprache?"
"Naja, das sind natürlich zweierlei Sachen. Zum einen beschreibe ich sie tatsächlich nicht beziehungsweise lasse dann Leerräume oder freie Räume oder deute nur an. Und das wirkt natürlich, kann in seiner Intensität noch grausamer sein als, wenn man das jetzt penibel aufgelistet hätte, was genau da passiert ist. Und das ging nur mit so einer poetischen Sprache. Also es geht darum, Bilder zu komponieren, die das irgendwie tragen können, das ist eine Gratwanderung, die man da eingehen muss."
Lesung mit Schauspieler Götz Schulte
Am Sonntag, dem 8. November, begibt sich der Schauspieler Götz Schulte auf die Spuren des ominösen Mannes im Pelzmantel, geistert mit ihm duch die eiskalte serbischen Stadt an der Donau Novi Sad und verbringt eine "Nacht im Bioskop". Und der Schriftsteller Clemens Meyer meldet sich aus Leipzig.
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Redaktion und Moderation: Cornelia Zetzsche
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