"Erfindung des Rußn" und nemo Der Russ und die Räterepublik - ein Kurzepos
Vor 100 Jahren setzten sich ausgerechnet Dichter an die Spitze der Münchner Räterepublik. Wie politisch dürfen, sollten Dichter sein? Das fragten sich die Münchner Lyriker Tobias Roth und Daniel Bayerstorfer und kreierten ein Kurzepos, ein "Epyllion", das sie für die radioTexte selbst eingelesen haben. Im Anschluss: nemo - das literarische Ratespiel mit dem Münchner Kultautor Franz-Maria Sonner alias Max Bronski als Gast-Detektiv!
"In diesem Wirtshaus und Hauptquartier mischen sie
erstmals Weißbier und Zitronenlimonade und sie
nennen es fürderhin Ruß."
(Auszug aus: Die Erfindung des Rußn)
Zur Entstehung des "Russ'n" kursieren mehrere Erklärungen. Zumeist heißt es, dass die "Rußn-Maß" ein Kind der Revolution vor hundert Jahren sei und erstmalig im Münchner Mathäser zusammengemixt wurde.
Dort trafen sich die Rotgardisten und sozialistischen Anhänger der Räterepublik, im Volksmund auch "Russ'n" genannt. Was der Sinn und Zweck der Mixtur gewesen ist - ob das Bier damals knapp geworden war oder ob der Alkohol mit Limonade gestreckt werden musste, um die Soldaten arbeitstüchtig zu halten, bleibt ungeklärt. In jedem Fall fand die bittersüße Hopfenkreation großen Zuspruch. Daran hat sich wohl auch nach hundert Jahren wenig geändert - im Gegensatz zur politischen Situation, die heutzutage definitiv nicht mehr von Dichtern gelenkt wird. Wie politisch dürfen, sollten Autoren sein? Und wie können wir nach hundert Jahren mit diesem einzigartigen Moment der Geschichte in Verbindung bleiben? Die beiden Münchner Lyriker Tobias Roth und Daniel Bayerstorfer wählten die Form eines "Epyllions" (Kurzepos), um einen literarischen Gedächtnisraum zu öffnen.
Risiko, Revolution und Ruß
"These: Bier. (Er zieht am linken Ohr.)
Antithese: Limonade (Er zieht am rechten.)
Und die Synthese dann: der Rausch.
Ein selber sakrisch synthetisches Urteil zu später
Stunde, freilich a posteriori; selbstredend
hat sich da Hufnagl damit unverzüglich in den
Schlaf gehegelt. Er sinkt runter auf Fichtls Schulter."
(Auszug aus: Die Erfindung des Rußn)
Im Münchner Mathäser, der Bierhalle, in der der "Russ" erstmals zusammengeschüttet wurde, gruppieren die beiden Autoren die wichtigsten Köpfe der Revolution um einen langen Biertisch herum. Man diskutiert viel und ist sich nie einig. Da bleiben trockene Kehlen nicht aus. So erwächst aus der Dialektik der neuen Freiheit ein ums andere Mal die Dialektik des "Rußn" - oder umgekehrt? Das Kurzepos - oder Langgedicht - ist ein Strudel aus Bildern, ein feierlicher Enthusiasmus, ein Feuerwerk der Fakten und Fiktionen. Und führt gleichzeitig zur Frage: Wie wollen wir uns heute zu Risiko, Revolution und Ruß verhalten?
"Die Sonnenstraße nimmt um Zwölf
die Feuerkugel auf wie eine Kegelbahn,
die Schatten purzeln, heute stemmen
Litfaßsäulen das Gewölbe
in weiß-blau. Plakate triefen noch vom Kleister:
da saugen hundert Augen dran,
zehn Revoluzzer stehn darunter, zwanzig Rußn
in der Leber, murmeln in Fraktur:
Um nach jahrelanger Vernichtung aufzubauen,
hat das Volk die Macht der Zivil- und Militärbehörden
gestürzt und die Regierung selbst in die Hand genommen."
(Auszug aus: Die Erfindung des Rußn)
Die Autoren im Kurzportrait
Tobias Roth
wurde 1985 in München geboren, wo er als poligrafo lebt und arbeitet. Er debütierte 2013 mit dem Gedichtband "Aus Waben" und legte seither zahlreiche eigene Titel, Herausgaben und Übersetzungen aus dem Italienischen, Lateinischen und Französischen vor.
Die Autoren Tobias Roth (Mitte) und Daniel Bayerstorfer mit Moderator und Redakteur Antonio Pellegrino (links) im Studio
2018 erschienen bislang Roths zweiter Gedichtband "Grabungsplan", seine Übersetzung von Voltaires "Candide", die gemeinsam mit Moritz Rauchhaus geschriebene Menue-Sammlung "Wohl bekam’s" sowie eine gemeinsam mit Wolfgang Hörner ausgewählte und übersetzte Auswahlausgabe Erasmus von Rotterdams ("Der sprichwörtliche Weltbürger"), die sich vehement gegen die Desiderius-Erasmus-Stiftung richtet.
Daniel Bayerstorfer
wurde 1989 in Gräfelfing geboren. Nach Aufenthalten in Hangzhou und Padua, ist er als Dichter, Übersetzer und Literaturvermittler in München tätig.
Sein Gedichtband "Gegenklaviere" erschien 2017 im Hochroth Verlag. Aus dem Chinesischen übertrug er u.a. Jiang Tao und Han Bo ins Deutsche. Er ist außerdem Mitorganisator der Lesereihe "meine drei lyrischen ichs" und des Festivals Großer Tag der Jungen Münchner Literatur. Bayerstorfer unterrichtet Kreatives Schreiben am Literaturhaus München.
"Die Erfindung des Rußn" und literarische Ermittlungen mit Max Bronski
am 26. März 2019 in den radioTexten am Dienstag, kurz nach 21.00 Uhr auf Bayern2
Zuerst lesen die Autoren das Epyllion auf den Russ und die Räterepublik, danach übernehmen die literarischen ErmittlerInnen von nemo das Studio: Neben Elisabeth Tworek und Andreas Trojan ist der Münchner Kultautor Franz-Maria Sonner alias Max Bronski bei Moderator Antonio Pellegrino zu Gast.
Das Buch „Die Erfindung des Rußn“ ist mit einem Vorwort von Jan Kuhlbrodt und Fotografien von Mathias R. Zausinger im Münchner APHAIA Verlag erschienen.
Podcast bis zum 25. April verfügbar