Nina Kunzendorf liest Francesca Melandri: Kalte Füße
Francesca Melandri bringt zur Frankfurter Buchmesse einen neuen Roman mit: „Kalte Füße“ ist ein wütendes, emphatisches, politisches Buch, in dem sie sich der faschistischen Vergangenheit Italiens und dem Ukraine-Krieg heute vehement stellt, denn: Wie sollen wir im friedlichen Westeuropa Krieg „verstehen“? Gespräch mit Francesca Melandri und Lesung mit Nina Kunzendorf.
"Bitte, erklär mir, was Krieg ist, weil ich es nicht weiß und Du, Papa, du musstest lernen, was Krieg ist – ob du wolltest oder nicht."
(Francesca Melandri: Kalte Füße)
Immer wieder hat sich die in Rom geborene Schriftstellerin Francesca Melandri ein Video angeschaut von einem jungen russischen Soldaten, dem von ukrainischen Frauen geholfen wird. Die Szene erinnerte sie an die Kriegserzählungen ihres Vaters Franco Melandri, daran, wie es ihm vor über 80 Jahren ergangen war während des „Ritirate di Russia“, des sogenannten Rückzugs aus Russland im Winter 1942/43, der eigentlich ein Rückzug aus ukrainischem Gebiet war – Charkiw hatte der Vater immer Carcovo genannt. Franco Melandri, ein faschistischer Offizier der Alpini, hätte nicht überlebt, wenn ihm nicht ebenfalls von ukrainischen Frauen geholfen worden wäre. Und sie, Tochter Francesca, gäbe es heute nicht. Dieser historische Clash, dazu die Fassungslosigkeit über den seit 2022 andauernden Krieg mitten in Europa treibt Francesca Melandri an in diesem bislang persönlichsten Buch, das ein langer Brief an ihren Vater als imaginiertes Gegenüber geworden ist.
„Kalte Füße“ - ein Buch über Demokratie, Gerechtigkeit und Befreiung
"Sieh mal einer an, Papa, da wollte ich ein Buch über den Krieg schreiben, und stattdessen ist es ein Buch über Demokratie geworden. Über Gerechtigkeit und Freiheit. Über die Befreiung."
(Francesca Melandri: Kalte Füße)
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs hat sich Francesca Melandri vehement den Informationen, Bildern, Posts, Videos, Memes, Tonmitschnitten via diverser Apps und sozialen Netzwerken ausgesetzt, den Krieg an den heimischen Schreibtisch geholt, sich zusätzlich in historische Abhandlungen, wissenschaftliche Werke vertieft. Daneben las sie die Bücher ihres Vaters über den Zweiten Weltkrieg noch einmal, ebenso italienische Geschichtsbücher. Aus der Materialflut, aus der Schonungslosigkeit, mit der sich die Schriftstellerin diesen zwei Kriegen stellte und sich noch immer stellt, wird ersichtlich, wie wichtig diese Recherche, die Suche nach Antworten für sie bis heute ist.
"Nur von der Liebe erzählen wir mit derselben Besessenheit wie vom Krieg, und auch aus demselben Grund: weil wir nichts davon verstehen…Und wie du siehst, Papa, versuche auch ich es und schreibe über den Krieg - selbst ich, die ich nur weiß, dass ich nichts davon weiß."
(Francesca Melandri: Kalte Füße)
Keine „kalten Füße“ – Melandris Appell
Wir in Westeuropa, so Melandri im „Buchgefühl“-Gespräch mit BR-Literaturredakteurin Judith Heitkamp, haben weder Krieg noch Hunger kennengelernt. Dieses Glück versieht uns zugleich mit einem „kognitiven Nachteil“, so Melandri, denn wir verstehen hier einfach nicht, was für so viele Menschen auf dem Planeten Realität sei. Melandris eigenes Ringen um „Verstehen“, ihr Kampf mit den Gefühlen ihrem geliebten Vater gegenüber, der als Faschist gekämpft hat und sie zugleich zu einem die Gerechtigkeit und Freiheit liebenden Menschen erzogen hat, und ihr aus alldem entwickelter Appell, die Ukraine zu unterstützen, eben keine „kalten Füße“ zu bekommen, um „Tod und Zerstörung zu stoppen“ – all das macht Melandris aktuelles, kluges Buch zu einem Leseerlebnis, das einen ergriffen, atemlos und gedankenreich entlässt.
Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr dritter Roman "Alle, außer mir" wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Melandri ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. Bei der Frankfurter Buchmesse 2024 vertritt Francesca Melandri Italien als Delegierte des diesjährigen Gastlands.
„Kalte Füße“ als Hörbuch-Podcast in der ARD Audiothek
Im Podcast „Buchgefühl – reden und lesen“ hat Francesca Melandri über ihr neues Buch gesprochen. „Kalte Füße“ ist im Wagenbach Verlag in der Übersetzung von Esther Hansen erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags liest die Schauspielerin Nina Kunzendorf, u.a. bekannt für ihre Rollen im Tatort, in der TV-Serie „Charité“ oder in Christian Petzolds Film „Phoenix“, einen Auszug aus Melandris Buch.
Das gesamte Buch ist in der ARD Audiothek als Hörbuch-Podcast zu finden – eine Koproduktion von NDR Kultur und Bayern 2.