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Ein verheerende Naturkatastrophe – und ein brutaler Mob Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili

„Das Erdbeben in Chili“ ist eine der großen Erzählungen von Heinrich von Kleist. Und geht uns bis heute an. „Kleist verhandelt universelle Themen“, sagt die Schriftstellerin Dagmar Leupold. Dazu eine Lesung mit Gert Heidenreich.

Stand: 16.08.2024

Eine verheerende Naturkatastrophe – und ein brutaler Mob: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili

"Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere…"

('Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili')

So widersprüchlich es klingt: Jeronimo Rugera, der Mann, der durch das von einem Erdbeben zerstörte St. Jago (das heutige Santiago de Chile) läuft, verdankt dieser entsetzlichen Naturkatastrophe sein Leben. Seine Geliebte – Donna Josepha – sollte, als Mutter eines gemeinsamen und unehelichen Kindes hingerichtet werden. Und Jeronimo wiederum wollte, aus Verzweiflung über dieses brutale Urteil, freiwillig aus dem Leben scheiden. Aufgrund des Erdbebens kommt Josepha frei. Die Liebenden und ihr Kind finden einen Ort der Ruhe. Dann aber kommt die nächste schicksalhafte Wende. Es gibt keine Gewissheit.

Die Geschichte der Naturkatastrophe aus dem 17. Jahrhundert – und in der damals noch immer Neuen Welt – diente Heinrich von Kleist als historischer Hintergrund für eine seiner bekanntesten Novellen. „Das Erdbeben von Chili“, 1807 zum ersten Mal veröffentlicht, handelt einmal konkret von der Zerstörung der Stadt und ihren Folgen. Zum anderen zeigt die Erzählung, was Kleist schreibend beständig interessierte: die Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen, mit unseren Trieben, mit der Entstehung von Gewalt und – damit verbunden – der Unmöglichkeit der Liebe. „Wir erleben unter anderem einen tobenden und wütenden Mob“, sagt die Münchner Schriftstellerin Dagmar Leupold. „Kleist ermöglicht einen Einblick in die hochkomplexe Psyche von uns Menschen“.

Heinrich von Kleist gehört zu den Autoren, mit denen sich Dagmar Leupold immer wieder intensiv beschäftigt hat und beschäftigt. Ihr Roman „Die Helligkeit der Nacht“ – 2008 erschienen – ist als imaginärer Briefwechsel zwischen dem Dichter und Ulrike Meinhof gestaltet, als Gespräch der Toten über zwei Jahrhunderte hinweg. „Kleists Texte sind von großer Modernität“, erzählt die Schriftstellerin im Bayern 2-Podcast „Buchgefühl – reden und lesen“. Und ist überzeugt, gerade auch in dieser historischen Novelle wird das erfahrbar. Gert Heidenreich, einer der bekanntesten Sprecher in der Geschichte des BR, hat „Das Erdbeben in Chili“ gelesen, in der Regie von Friedhelm Kemp. Die Lesung und das Gespräch mit Dagmar Leupold sind als Podcast in der ARD-Audiothek verfügbar.

Heinrich von Kleists Erzählung gibt es in verschiedenen Ausgaben, darunter im Reclam-Verlag. Von Dagmar Leupold erschien zuletzt der Roman „Dagegen die Elefanten!“, im Jung und Jung-Verlag. In einer Sommer-Reihe im Bayern 2-Podcast „Buchgefühl – reden und lesen“ sprechen Schriftstellerinnen und Schriftsteller über klassische Texte. Joshua Groß erzählt über Alexandre Dumas und den Roman „Der Graf von Monte Christo“, Albert Ostermaier über Ernst Tollers Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“. Alle Folgen in der ARD-Audiothek.


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