Irina Wanka liest Ingeborg Bachmann: Das dreissigste Jahr
Sinnkrise vor dem 30. Geburtstag? Wer kennt das nicht! Auch Ingeborg Bachmann musste da durch. Irina Wanka liest aus dem Prosadebüt der legendären Schriftstellerin, die vor 50 Jahren, im Oktober 1973, in Rom verstarb. Moderation: Kirsten Böttcher
"Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher. Denn bisher hat er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Nie hatte er gedacht, dass von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren… Nichts hat er befürchtet. Jetzt weiß er, dass auch er in der Falle ist."
(Ingeborg Bachmann)
Sie lässt uns nicht los, die philosophische Prosaautorin aus Klagenfurt, die abgründige Lyrikerin, die Hörspielerin, die Intellektuelle, die aus dem Koffer lebte, die Nobelpreisnominierte. Und das waren nur die großen Schubladen, in die man die facettenreiche Ingeborg Bachmann schieben kann, die vor 50 Jahren, am 17. Oktober 1973, in der Ewigen Stadt verstarb.
„Das dreißigste Jahr“ heißt das Prosadebüt Bachmanns, das 1961 erschien: ein Zyklus von sieben Geschichten, in denen die Figuren, geprägt von Krieg und Nazizeit, ihre Handlungsspielräume abwägen, ausloten und Verantwortung übernehmen – oder auch nicht. Im „Dreißigsten Jahr“, der Erzählung, die die Schauspielerin Irina Wanka für die radioTexte eingelesen hat, erleben wir einen namenlosen Helden auf der Flucht – vor sich selbst, vor seinem 30. Geburtstag, vor dem Eintritt ins ernste Berufsleben, für ihn eine „Falle“, ein „Gefängnis“! Ein Jahr lang ist er on the road, eine Geschichte im Ich kreisend, in der der Protagonist in den Spiegel schaut – mit viel Kaffee und Campari intus – und sich fragt, wer er denn ist, wenn er nicht mehr jung ist. Sicherlich ein Zustand, den wir alle irgendwie, irgendwann durchlebt haben und der vielleicht nie endet.
"Er möchte nicht leben wie irgendeiner und nicht wie ein Besonderer"
(Ingeborg Bachmann)
Natürlich waren diese Gedanken auch der jungen Schriftstellerin vertraut. Sie war etwas älter als der namenlose Erzähler, gerade 31 Jahre alt geworden, als sie 1957 an die Isar zog. Da war Bachmann schon eine dichtende Ikone, hatte den Preis der Gruppe 47 gewonnen und den Hörspielpreis der Kriegsblinden! Und doch plagten sie Unruhe und Geldsorgen, so dass sie ins „hinterwäldlerische“, „hässliche“ München kam, um für den Bayerischen Rundfunk als Dramaturgin zu arbeiten. Lange blieb sie hier nicht. „Ein Wirbel, der nie aufhörte“ sei sie gewesen, so schreibt Bruder Heinz Bachmann in den gerade erschienenen Erinnerungen. Am 13. Oktober geht der Wirbel gleich weiter: dann startet „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ in unseren Kinos. „Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher. Denn bisher hat er einfach von einem Tag zum anderen gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Nie hatte er gedacht, dass von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren… Nichts hat er befürchtet. Jetzt weiß er, dass auch er in der Falle ist.“ (Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr)
Sie lässt uns nicht los, die philosophische Prosaautorin aus Klagenfurt, die abgründige Lyrikerin, die Hörspielerin, die Intellektuelle, die aus dem Koffer lebte, die Nobelpreisnominierte. Und das waren nur die großen Schubladen, in die man die facettenreiche Ingeborg Bachmann schieben kann, die vor 50 Jahren, am 17. Oktober 1973, in der Ewigen Stadt verstarb.
"Mit Campari durchs Ich reisend"
(Ingeborg Bachmann)
„Das dreißigste Jahr“ von Ingeborg Bachmann mit Irina Wanka. Regie: Axel Wostry. Produktion: BR 2010. Das Buch ist im Piper Verlag erschienen
Unsere Lesungen gibt’s natürlich auch als Podcast: Auf dieser Seite im Stream, im BR Podcastcenter und in der ARD Audiothek. Viel Spaß!