Keyserling und nemo "Fräulein Rosa Herz" und nemo mit Bruno Jonas
Gleich in seinem ersten Roman beweist der baltische Adelige, der oft mit Theodor Fontane verglichen wird, sein sensibles Gespür für den engen Existenzrahmen seiner Heroinen. "Fräulein Rosa Herz" muss einiges einstecken für ihre erste "Kleinstadtliebe" - so der Untertitel des Werks von 1887. Für sie gibt es am Ende nur noch einen Ausweg: die Fremde. Im Anschluss: eine neue nemo-Rätselrunde mit Bruno Jonas als Gast-Detektiv!
"Ich weiß sehr wohl, daß Rosa Herz nur ein unbedeutendes armes Mädchen ist, das ein Schicksal erleidet, wie es unzählige unbedeutende arme Mädchen erleiden. Dennoch – könnte ich bewirken, daß der Leser diese unbedeutende Mädchenseele und dieses gewöhnliche Schicksal nachfühlt und nachlebt, so würde ich glauben, demjenigen mit meiner Erzählung willkommen zu sein, der, nicht zufrieden, nur ein Leben und eine Seele zu besitzen, gern fremdes Leben in sich aufnimmt. Da ist es denn gleich, ob es ein König oder ein armes Mädchen ist; nur ein Menschenleben – wirkliches Leben – muß es sein..."
(Vorwort von Fräulein Rosa Herz, Eduard von Keyserling)
Das siebzehnjährige Mädchen mit dem sprechenden Namen Rosa Herz ist "fest entschlossen, glücklich zu sein"; sie will unbedingt der engen Biederkeit ihrer Heimatstadt entkommen. Beim Gedanken an eine Zukunft als Lehrerin an der Töchterschule und Ehefrau des schmierigen Ladendieners Lurch packt sie das Grauen. Als der charmante und weltmännisch tuende Ambrosius Tellerat in der Stadt auftaucht, ist es um Rosas Herz geschehen.
Lovis Corinth malte um 1900 den bereits schwer erkrankten Keyserling. Der kommentierte: „So aussehn möchte ich aber lieber nicht.“
"Die selbstbewußte Kühnheit, mit der Ambrosius zu ihr emporstarrte, die gesuchten Stellungen, der Aufwand mit großen, sehr funkelnden Hemdknöpfen und breiten Manschetten, den er trieb, alles war ihr neu und anziehend; und die Sonnenstrahlen, die auf dem blanken Hut blitzten, umgaben den gefühlvollen Handlungsdiener der Firma Lanin mit einer leuchtenden Aureole. Und mußte es nicht so sein? Mußte nicht dieses Mädchen, mit der fiebernden Phantasie und den fiebernden Sinnen seiner siebzehn Jahre, die ungeduldig über das stille bürgerliche Leben hinausdrängten, mußte es nicht allem Neuen, Ungewohnten begierig zuflattern, und war jenes Neue auch nur ein Kommis, der seinen Sonntagsrock am Werktage trug?"
(Auszug aus Fräulein Rosa Herz)
Eine Wirklichkeit voller Wellen
Mit Rosa Herz, dem Mädchen aus kleinen Verhältnissen mit großen Träumen, schuf Eduard von Keyserling (1855−1918) eine seiner liebenswertesten Frauenfiguren. Voller Empathie schildert der deutsch-baltische Autor, der selbst zeitlebens eher als Außenseiter galt, nicht nur ihren letztlich naiven Kampf gegen die Konventionen; er spart auch nicht an beißender Kritik an der so harmlos wirkenden Kleinstadt-Gemeinschaft, die jede Abweichung gnadenlos ächtet.
Eduard von Keyserling, der zunächst in Wien, später in Italien lebte, übersiedelte 1894 mit seinen Schwestern nach München, bewegte sich in den Kreisen der Schwabinger Bohème. Ab 1900 lebte der ewige Junggeselle bis zu seinem Tod in der Ainmillerstraße Nr. 19 in Schwabing, musste seine Werke seinen Schwestern diktieren, da er aufgrund seines Syphilis-Leidens erblindet war. 1918, vor nunmehr 100 Jahren, starb der Autor, der oft mit Fontane oder gar Flaubert verglichen wurde. Seine Werke wurden vielfach als Hörspiele inszeniert, der sicherlich bekannteste Roman "Wellen" auch promiment verfilmt.
"Der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger – man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900."
(Thomas Mann über Eduard von Keyserling)
Rosa Herz und Bruno Jonas!
Nach der Lesung aus Eduard von Keyerlings Roman "Fräulein Rosa Herz" mit Kornelia Boje folgt die letzte nemo-Runde des Jahres 2018. Elisabeth Tworek und Andreas Trojan erhalten ehrenvolle Unterstützung von keinem Geringeren als Bruno Jonas.
"Fräulein Rosa Herz" ist bei Manesse erschienen.
Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino
Podcast verfügbar