Wer war Hans Paasche? Verleger Helmut Donat im Gespräch
Er war Kolonialoffizier a.D. und zugleich Pazifist: Hans Paasche (1881-1920) schrieb bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegen Wirtschaftsfetischismus, Gewalt und Umweltzerstörung an und verblüffte deutsche Leser mit seinem fiktiven Briefen über „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland", die erstmals 1912 erschienen. Vor 100 Jahren wurde Hans Paasche von Freikorpssoldaten ermordet. Helmut Donat, der Verleger von Paasches Werk, zeichnet im Gespräch mit Antonio Pellegrino ein spannendes Porträt dieses außergewöhnlichen Autors.
Wer war Hans Paasche?
Antonio Pellegrino: Hans Paasche war als Marine- und Kolonialoffizier an der Niederschlagung von mehreren Aufständen in Afrika beteiligt. Sein Vater, Hermann Paasche, war Wirtschaftswissenschaftler, später Reichstags-Vizepräsident und Mitglied der Nationalliberalen Partei. Hans wuchs in einem großbürgerlichen, konservativen Umfeld auf. Dennoch distanzierte er sich von der Ideologie seines Vaters und dessen politischer Linie. Was veranlasste ihn, einen anderen Weg einzuschlagen und sich für wichtige Reformen einzusetzen?
Helmut Donat: Durch das Erlebnis Afrika geriet Paasche in Konflikt mit seinem Vater, der von der „Notwendigkeit wachsenden Kolonialbesitzes“ überzeugt war. Hermann Paasche bereiste Afrika, um durch Erarbeitung wirtschaftlicher Studien die Nutzung der Kolonien voranzutreiben und die „Gegner der Kolonialpolitik zum Schweigen zu bringen“. Ganz anders der Sohn, der im Januar 1910 in einer Schilfhütte am Strande des Victoriasees notierte: „Je länger ich aber hier lebe, desto mehr sehe ich, dass wir vorsichtig sein müssen mit dem, was wir den Eingeborenen bringen. Wir halten wirklich vieles für gut, was in Wirklichkeit schädlich wirkt.“ Wie stark die Anschauungen von Vater und Sohn auseinandergingen, verdeutlichen nicht zuletzt die „Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara“. Die Sinnesänderung seines Sohnes war dem Vater verhasst. Dass sein Sohn andere Wege einschlug als die ihm vorgezeichneten, vermochte er nicht zu tolerieren. Hermann Paasche verkörperte das militaristisch-nationalistische Deutschland. Er zählte zu den Stützen des Kaiserreichs, dem er diente und an dem er verdiente. Er war „Geschäftspolitiker en gros“. Für die Zuckerindustrie der Magdeburger Börde wirkte er als Lobbyist. Als Vorsitzender des Aufsichtsrats und Großaktionär der Howaldtswerke profitierte er an der Rüstung und am U-Boot-Krieg. Sein Motto: „Der Krieg kann mir nicht lange genug dauern, ich werde jeden Tag reicher!“
Lukanga Mukaras "Forschungsreise"
"Berlin, den 1. Mai 1912.
Omukama! Großer und einziger König!Ich schreibe Dir als Dein gehorsamer Diener, den du aussandtest, zu sehen, ob es einen König gebe, der Dir gleiche und ob ein Land sei, das, von Menschen bewohnt, den Menschen mehr zu bieten habe als Dein Land, Kitara, das Land der langhörnigen Rinder. Lass mich die Antwort auf diese Fragen gleich vorwegnehmen: es gibt kein solches Land, es gibt keinen solchen König."
(Hans Paasche, aus dem Ersten Brief Lukanga Mukaras)
Hans Paasche repräsentierte dagegen jenes „andere“ Deutschland, das den Militarismus und Nationalismus überwinden und eine Politik des Friedens, des Rechts und der Demokratie durchsetzen wollte. In Vater und Sohn manifestierten sich die wesentlichen historischen Strömungen der jüngeren deutschen Geschichte: Militarismus und Pazifismus. Einen Kompromiss zwischen den beiden Politikkonzepten konnte es nicht geben. Was Hans Paasche beanspruchte, war das Recht auf geistige Freiheit und Menschenwürde. Er konnte nicht akzeptieren, dass seines Vaters Bedingungen für Verständigung und Liebe der Verzicht auf seine Anschauungen war. Die Rolle seines Vaters begriff er als die eines „großen Wirtschaftspolitikers“. Ihm aber sei die Aufgabe zugefallen, den Nachweis zu führen, wie der Wachstumsfetischismus, „wie diese Überschätzung der Volkswirtschaft, der Sachgüter, der Betriebsamkeit, der sinnlosen Geschäftigkeit, der Zahlenvergötterung – zum Zusammenbruch der Menschheit führen muss.“ Während Hermann Paasche zu den „Ausbeutern“ zählte, stand sein Sohn auf der Seite der „Leidenden, Hungernden, Verachteten, Bespöttelten“. Hermann Paasche war nicht bereit, seinen Sohn zu respektieren, sondern bekämpfte ihn und schadete ihm auch wirtschaftlich. Selbst nach dessen Ermordung distanzierte er sich von ihm, dichtete ihm „Krankheit“ und „Verfolgungswahn“ an.
Antonio Pellegrino: Mit der "Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland", dem fiktiven Reisebericht eines schwarzen Gastes, sorgte Paasche für Furore und erreichte gleichzeitig eine große Leserschaft. Wer war Lukanga M.? Paasche hat dafür die Briefform gewählt. An wen sind die Briefe adressiert?
Helmut Donat: Paasche hat Lukanga Mukara auf seiner Expedition zu den Quellen des Nils 1909/10 kennengelernt. Lukanga stammte von der Insel Ukara im Viktoriasee, ist aber wegen der übervölkerten Insel in die Nachbarinsel Ukewere ausgewandert. Hier lernte er bei „weißen Vätern“, also Missionaren, Lesen und Schreiben. Schließlich ist er auf einer Reise dem Pater, mit dem er unterwegs war, entlaufen. Er trat in die Dienste von Ruoma, den König von Kitara, als Dolmetscher, Erzähler und Gerichtsberater. Dort lernte ihn Paasche kennen. In Kitara wunderte man sich über die Weißen, die vermehrt ins Land kamen, Fragen stellten und Vorschläge machten, wie sich alles besser machen und organisieren ließe. Um zu erfahren, was die Weißen damit meinten, beauftragte der König auf Vorschlag Paasches Lukanga Mukara in das Land der Deutschen zu reisen, um ihm in Briefen zu berichten, wie die Weißen leben, ob man ihnen trauen können und was von ihrem Engagement in seinem Königreich zu erwarten war.
Wer ist der wirklich „Geisteskranke“?
"Es gibt überhaupt keinen Sungu, der es nicht eilig hat. Jeder hat immer etwas vor, und jetzt weiß ich auch, weshalb der Sungu, der Kitara bereiste, die Männer so oft fragte: Was arbeitest du?
Und weshalb er sich erregte, wenn er die Antwort bekam: Tinkora mlimô mingikala. Ich arbeite nicht; ich bin vorhanden.
Das erboste ihn, weil es in Deutschland keinen Mann gibt, der ohne Arbeit zufrieden sein dürfe, es sei denn, er habe viel Geld. Sie arbeiten alle, weil sie Geld haben wollen. Und wenn sie Geld haben, benutzen sie es nicht dazu, sich Glück zu verschaffen, was ja nichts kosten würde, sondern sie lassen sich von anderen, die Geld gewinnen wollen, einreden, sie müssten, um glücklich zu sein, alle möglichen Dinge kaufen, Dinge, die ganz unnütz sind und da gemacht werden, wo der Rauch aufsteigt."
(Hans Paasche, aus dem Zweiten Brief Lukanga Mukaras an seinen König)
Antonio Pellegrino: Für viele war Hans Paasche wegen seines Engagements und seiner schonungslosen Kritik ein "Verräter" und "Nestbeschmutzer". Andere sahen in ihm einen Pazifisten und leidenschaftlichen Vorkämpfer für den Schutz der Umwelt.
Helmut Donat: Nemo propheta in patria: Am meisten wird jener Prophet gehasst, der dem Land die Schicksalsfäden seines Unterganges aufzeigt, das es sich selber gewoben hat. Paasche wollte das Nest reinigen – und wurde deshalb zum Nestbeschmutzer gemacht. Paasche hat nach 1918 den Verlust der deutschen Kolonien ausdrücklich begrüßt. Will ihm das heute noch jemand verdenken? Er war den Zeitgenossen um weit mehr als eine Nasenlänge voraus. Diese aber wollten seine Botschaft nicht hören und machten ihn zur Zielscheibe ihres Hasses, erklärten ihn zum „Geisteskranken“. Es ist zu fragen: Wer waren die wirklichen „Geisteskranken“? Jene, die, auf ihren Schwertglauben gestützt, kraft ihrer überlegenen Waffen glaubten, die Welt zu erobern? Oder jene, die vor diesem Weg gewarnt und sich für eine friedliche Regelung von Konflikten eingesetzt haben?
Antonio Pellegrino: Hans Paasches Grab auf Gut Waldfrieden liegt im heutigen Polen. Sind dort seine Schriften bekannt?
Helmut Donat: Nicht im gesamten Polen, aber in der Region, in der Paasche gelebt hat. Das hängt damit zusammen, dass auf Initiative von Helga Paasche, dessen Tochter, 1985 (also noch in den Jahren vor dem Zusammenbruch des Ostblocks) der Grabstein Paasches in den Westen transportiert worden ist. Er steht jetzt im Hessischen am Fuße der Burg Ludwigstein, in der es auch ein „Paasche-Zimmer“ gibt und inzwischen das „Paasche-Archiv“ untergebracht ist. In diesem Zusammenhang haben sich Kontakte zwischen Polen und Deutschen ergeben. Werner Lange, der Paasche-Biograph, hat dafür gesorgt, dass an dem Grab Paasches auf einer an einem Kreuz befestigten Tafel in polnischer Sprache der Satz steht: „Hier ruht ein Kämpfer für Frieden und Völkerverständigung, ermordet im Jahre 1920 als Opfer seiner Gesinnung“. Darunter ist in deutscher Sprache zu lesen: „Ich habe mehr gesät als geschnitten…“ Das Grab Paasches auf seinem Gut „Waldfrieden“ in Polen ist 2005 zur Gedenkstätte europäischer Verständigung erwählt worden. Im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes begannen polnische und deutsche Schüler, sich mit dem Leben und der Bedeutung Hans Paasches zu beschäftigen. Seit 2008 liegt auch eine polnische Ausgabe des „Lukanga Mukara“ vor.
Antonio Pellegrino: Wie aktuell sind Paasches Gedanken, seine Zivilisationskritik?
Helmut Donat: Wenn man bedenkt, dass Paasche sich u.a. für Natur- und Tierschutz eingesetzt hat und er bereits vor dem Ersten Weltkrieg für eine Verminderung der Fangquoten für Robben eintrat oder sich gegen den Seefahrt-Tourismus aussprach, so muss man sagen, dass er in vielen Dingen aktuell geblieben ist. Im Oktober 1912 schreibt er: „Das Leid der geschändeten Natur war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt, unter der nichts schonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Wo immer eine schützende Hand sich über lebende Naturschätze ausbreiten kann, da muss sie es jetzt tun.“ Paasche hat sich gegen die „Federmode“ gewandt, also gegen das Tragen von Hüten mit seltenen Vogelfedern und die damit verbundene Ausrottung von diversen Vogelarten. Auch hier warnt er die Menschen vor „Überhebung“ sowie davor, das Gleichgewicht der Natur aus den Angeln zu heben. „Die Vögel“, sagt er, „sind die natürlichen Vertilger derjenigen Insekten, die wir heute als Überträger vieler Krankheitserreger kennen und bekämpfen. Wohl ist es dem Menschen in seine Hand gegeben, das, was seinem Geschoss Ziel bietet oder in seine Schlingen tritt, völlig zu vernichten. Macht er jedoch in Verblendung oder Leichtsinn davon Gebrauch, dann kommen die kleinen und kleinsten Lebewesen und fressen ihn auf.“ Der Begriff Viren war damals noch nicht geläufig, aber wie aktuell solche Einsichten sind, braucht man inmitten der Corona-Krise wohl nicht zu erläutern.
Buchtipp
Das Buch von Hans Paasche „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“, mit Beiträgen von Iring Fetscher, Geert Platner und Helmut Donat und mit 55 Abbildungen versehen, ist im Donat Verlag erschienen.
Die Lesungen aus Hans Paasches "Lukanga Mukara" können Sie mitnehmen und nachhören: im Stream auf der radioTexte-Homepage oder als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.