Vicky Baum "Vor Rehen wird gewarnt"
Vicky Baum, deutsch-amerikanische Schriftstellerin mit Wiener Wurzeln, erzählt in ihrem Roman von einer Heldin, die aus ihrer vermeintlichen Zerbrechlichkeit manipulative Macht über andere gewinnt. Und immer bekommt, was sie will.
Das "Rehlein", vor dem in diesem Roman gewarnt wird, ist nicht jenes flüchtende Waldtier, das der Autofahrer in der Nacht zu fürchten hätte, sondern eine sehr spezielle Dame. Eine, die aus ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit eine tyrannische Macht über alle zu machen weiß, die es mit ihr zu tun bekommen. Das Lebensmotto von Ann Ambros lautet: "Ich kriege immer, was ich will", und was sie will, das weiß sie sehr genau: Mann und Tochter ihrer Schwester und ein anderes Leben. Für dieses Ziel arbeitet Ann, die sich von ihrer eigenen Mutter ungeliebt und vom Vater hintergangen fühlt, mit ungewöhnlicher Energie - und mit Hilfe kleiner Ohnmachten zur richtigen Zeit ...
Autorin mit Seelenkenntnis und Welterfahrung
Sie erreicht zunächst, was sie sich vorgenommen hat - macht sich den Schwager, einen umschwärmten Geigenvirtuosen, erst zum Geliebten, dann zum Ehemann und wird die Mutter für ihre Nichte Joy. Doch natürlich geht das alles dann doch nicht einfach gut für Ann aus. "Vor Rehen wird gewarnt", erschienen 1954, porträtiert eine Frau, die ihre Umgebung manipuliert und kontrolliert, Posen und Rollen einnimmt, echte und falsche Neurosen auslebt. Und dieses Porträt fällt, wie es sich für Bücher von Vicky Baum gehört, sogar sehr unterhaltsam aus.
Vicky Baum, geboren 1888 in Wien, trat bereits mit zwölf Jahren als Harfenistin auf und schlug die Laufbahn einer Musikerin ein, bevor sie mit Mitte 20 zu schreiben begann. Ihre Erzähltexte erschienen vielfach vor der Buchveröffentlichung in Zeitschriften, vor allem in der "Berliner Illustrirten Zeitung". Baums Roman "Stud.chem. Helene Willfüer" um ein "tüchtiges Mädchen" machte sie 1928 mit einem Schlag berühmt, ihr wohl bekanntestes Buch wurde "Menschen im Hotel", erschienen 1929. Die Autorin soll es in nur drei Monaten geschrieben haben und adaptierte den Stoff auch für die Bühne. Im Januar 1930 war Uraufführung im Berliner Theater am Nollendorfplatz, 1931 bekam Baum das Angebot aus Hollywood, einen Film daraus zu machen. Vicky Baum, Tochter eines Juden, ging nach Amerika - und blieb. "Menschen im Hotel" kam mit Greta Garbo in einer Hauptrolle in die Kinos und sollte nicht die einzige Arbeit Vicky Baums für den Film bleiben. In Deutschland verbrannte das NS-Regime ihre Bücher und belegte sie mit Publikationsverbot, 1938 nahm Baum die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie reiste viel, schrieb Drehbücher und Prosa, 1960 starb die Schriftstellerin in Los Angeles.
Lesung in den radioTexten
Vicky Baums Texte sind stets nahe an den Realitäten, die sie beschreiben, und zeichnen so ein detailreiches Gesellschaftsbild ihrer Zeit. In "Vor Rehen wird gewarnt" beweist die Autorin einmal mehr ihre erstaunliche psychologische Beobachtungsgabe. Dabei psychologisiert der Text nicht ausführlich, sondern treibt seine Beschreibungen und seine Handlung schwungvoll voran und spitzt sie immer weiter zu: Jene Zugfahrt der Lady Ambros mit ihrer Stieftochter Joy, die die Rahmenhandlung der in Rückblenden erzählten Hauptgeschichte bildet, endet durchaus turbulent für die alte Dame.
"Vor Rehen wird gewarnt" ist einer der weniger bekannten Romane von Vicky Baum. In den radioTexten am Donnerstag, der klassischen Lesung auf Bayern 2, ist eine Aufnahme mit der Schauspielerin Elisabeth Endriss zu hören.
radioTexte
Vicky Baum, "Vor Rehen wird gewarnt"
Lesung mit Elisabeth Endriss
Redaktion und Moderation: Judith Heitkamp
radioTexte am Donnerstag, 21. Mai 2015, 21.05 Uhr auf Bayern 2