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Suche nach einem verlorenen Mythos Das Thema

Stand: 23.05.2011 | Archiv

Stadt der Liebespaare und der Liebe

Genauso wie Alex und Marten ergeht es vielen: "Eine Stadt für Verliebte oder die Hochzeitsreise!" schwärmt das Paar aus Puerto Rico. Auf der Pont Neuf, der ältesten Brücke der 35 Seine-Brücken im Zentrum der Stadt mit Blick auf den Fluss, die Schiffe und Notre-Dame lassen sie sich fotografieren. Der Mythos funktioniert immer noch. Auch für die unzähligen Touristen, die den Traum von der französischen Erotik auf dem Hügel von Montmartre träumen. Am Place Pigalle, im Moulin Rouge, wo die kommerziellen Inszenierungen der Nackttänzerinnen stattfinden, mit ihren langen Can-Can-Beinen, dem überbordenden Kopfschmuck, den Federn, den Strasskostümen - Josephine Baker lässt grüßen. Der Maler Graf Henri Toulouse-Lautrec verewigte in seinen Bildern die Röcke schwingenden Halbweltdamen des Moulin Rouge, allen voran die berühmte Tänzerin "La Goulu". Heute ist das Bild der Goulu im Musée d'Orsay zu bewundern. Wo früher verarmte und abgebrannte Künstler auf der Suche nach dem "ewig Weiblichen" waren, sitzen heute wohlsituierte japanische Touristen in rotplüschigen Zuschauersälen und genießen das Glas Champagner, im Eintrittspreis inbegriffen.

Stadt der Künstler

Der nächste Mythos: die künstlerische Avantgarde trifft sich am Place du Tertre. Aber das war einmal. Hier erfanden Picasso und Braque, Toulouse-Lautrec neue Kunstrichtungen wie etwa den Kubismus und verzechten ihr Geld in billigen Kneipen und Weinschenken. Die intellektuelle Atmosphäre und der kreative Austausch der Künstler auf dem Montmartre sind heute nur noch legendär, längst hat der Kommerz hier Einzug gehalten. Zwar gibt es immer noch kleine Cafés auf dem Platz und auch Maler tummeln sich hier, um den Touristen Genre- und Kitschportraits zu verkaufen. Aber die künstlerische Avantgarde trifft sich nicht mehr in Paris, sie ist nach London oder New York ausgewichen. In Paris ist es sehr schwer für Anfänger, sich einen Namen zu machen. Die meisten Künstler können nicht von ihrer Arbeit leben. Und so verdient sich Thomas Combois als einer von etwa 80 Kopisten im Louvre sein Geld. Er kopiert die berühmten Bilder, wie etwa das Bild der Jungfrau mit dem grünen Kissen des da Vinci Schülers Solario und hofft, es an die Touristen zu verkaufen. Drei Monate Arbeit hat er darin investiert. Lieber würde er auch als Portraitist auf dem Place du Tertre arbeiten, aber Neulinge werden dort nur schwer zugelassen. Künstler-Romantik kommt da selten auf, wenn ein Maler wie Thomas Combois einen vierköpfige Familie ernähren muss. Dabei hilft ihm das internet, also neue technische Möglichkeiten, um seine Bilder Galerien anzubieten, während die Künstler früher noch mit ihren Bildern unterm Arm einen Galeristen nach dem anderen abklappern mussten. Damals hatten Maler wie De Chiricco oder Van Gogh ihre Ateliers auf dem Montmartre, heute ist die Avenue Junot etwa inzwischen eine der teuersten Straßen in Paris. Das Viertel ist chic geworden, heute leben die sogenannten Bobos hier. Bobos, das sind die „Bourgeois-Bohèmiens“, etablierte Künstler, Schauspieler und Modezaren, wie Jean Paul Gaultier, der jeden Morgen sein Baguette beim Arnaud Delmontel, dem preisgekrönten Bäcker in der Rue des Martyres kauft. Nur noch Wohlhabende können sich hier Wohnungen leisten mit Quadratmeterpreisen bis zu 10.000 Euro. Die Künstler sind längst in die Außenbezirke, die Banlieus ausgewichen oder gleich in die Provinz vor den Toren der Stadt.

Quartier Latin der Intellektuellen

Am linken Seinufer, unten am rive gauche, trifft man keine jungen Existenzialisten in schwarzen Rollkragenpullis mehr, so wie früher Hemingway oder Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, die im Café de Flor ihre Jünger um sich vereinten. Heute versuchen, mehrsprachige Kellner Touristen in die Fresstempel des Quartier Latin zu ziehen. Die Haute Cuisine ist allerdings preisgünstigen Tagesmenüs gewichen, in französischem, marokkanischem oder griechischem Ambiente. Studenten sieht man in den Gassen selten, sie verschwinden in Richtung Sorbonne, die der Theologe Robert Sorbon vor 750 Jahren für mittellose Studenten gegründet hat. Die meisten Studenten wohnen vor der Stadt, 30-50 Kilometer auswärts. Aber in Frankreich gilt jemand, auch wenn er außerhalb von Paris wohnt, immer noch als Pariser. Die Studentinnen Melanie und die türkischstämmige Rabia träumen davon, eines Tages einmal ins Zentrum zu ziehen – monter sur Paris. Ein ambitionierter Traum, denn auf eine freie Stelle als Geschichtslehrer kommen 10 Bewerber. Gerade Migranten, auch wenn sie hier geboren wurden, haben es schwerer gegenüber den Absolventen der Elite-Universität Ecole Normale Superieure, denen alle Türen offen stehen.

Mythos "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"

Bereits zur Zeit der Revolution war dieser Anspruch relativ zu sehen. Es gab auch schon damals Luxus-Gefangene und das Volk auf stinkendem Stroh in den Gefängnisverschlägen. Die Revolution fraß ihre Kinder, 2700 Gefangene verurteilte das Revolutionsgericht zwischen 1793 und 1795 zum Tod durch die Guillotine. Was als Aufklärung galt, stellte das Mittelalter als barbarische Epoche dar, so meint der Pfarrer der Kathedrale von Notre Dame, Pere Jean Poutot, auf Kosten des Glaubens. Eine Gemeinde allerdings gibt es heute um Notre-Dame auch nicht mehr. Allein dem Roman von Victor Hugo „Der Glöckner von Notre Dame“ 1831 war es zu verdanken, dass die Kathedrale restauriert wurde. Und so thronen am Dach von Notre Dame immer noch diese Schimären, die Monster, die als Wächter von Paris, zum Wahrzeichen der Kathedrale geworden sind. Von oben auf dem Turm überblickt man die ganze Stadt. Mit den prächtigen Gebäuden der Haussman-Zeit, der Sacre-Coeur-Kirche im Norden und den Eiffelturm im Westen. Die zwei Gesichter von Paris, harter Kampf ums Überleben und grenzenloser Luxus, treffen aufeinander und nehmen doch nichts der Stadt als Inbegriff der Romantik. Touristen wie Einheimische suchen gleichermaßen hier ihr Glück.


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