Christiane Neudecker "Die Welt wartet"
Die in Nürnberg aufgewachsene Autorin Christiane Neudecker hat einen Band mit Erzählungen herausgebracht, der es wirklich in sich hat: "Die Welt wartet" bietet intelligenten Thrill – sehr gelungene Schauergeschichten aus der Gegenwart.
Christiane Neudecker ist eine anerkannte Schriftstellerin und Regisseurin. Für ihre Romane wie "Boxenstopp" oder "Der Gott der Stadt" und ihre Erzählungen wie "Sommernovelle" oder "Das siamesische Klavier" hat die in Berlin lebende Autorin viel Aufmerksamkeit beim Publikum und von der Literaturkritik bekommen.
Nichts ist wie es scheint – auch nicht die Realität
Seit fünf Jahren war kein neues Buch mehr erschienen. Jetzt aber hat Christiane Neudecker einen Band mit Erzählungen veröffentlicht, der es in sich hat: "Die Welt wartet" enthält unheimliche Geschichten und schon das Buchcover ist einen zweiten Blick wert: In freundlichen hellen Blautönen sieht man fliegende Vögel über einem still daliegenden See. Doch das ist eine Täuschung. Man muss das Cover nur umdrehen, dann sieht man das wirkliche Bild: Die fliegenden Vögel entpuppen sich als schwimmende Enten, und der mutmaßliche See als hoher, leerer Himmel – in Christiane Neudeckers unheimlichen Geschichten geht es um Menschen, die plötzlich mit Unstimmigkeiten einer irritierenden Realität konfrontiert werden.
"Man kann sich im Vorfeld gar nicht ausmalen, wie man darauf reagiert. Wie man das plötzlich als neue Realität annimmt. Und tatsächlich im Zweifelsfall zuzugeben, wenn alle anderen das nicht wahrnehmen, dass es für einen selbst anders ist, das ist das Schwierigste überhaupt. Insofern versuchen die Figuren erstmal mit größtmöglicher Offenheit das als Wahrheit anzunehmen, was sich da tut. Das sind natürlich die Springmomente, wo ich als Literatin diebische Freude habe, sie weiterzustricken."
Autorin Christiane Neudecker
Erzählung "Wem du traust" – der Maestro und die Stimme
So ergeht es etwa einem Hallenbadbesucher, der sich plötzlich im weiten Meer wiederfindet. Oder einem Dirigenten, der in der Orchesterprobe zu einer Schubert-Symphonie statt der Pauke eine mahnende Stimme hört, die "Sie ist in Gefahr" ruft.
"Sein Taktstock erstarrt. Gerade ist Messner noch dabei, einen Kreis mit der Spitze seines Dirigierstabes zu beschreiben, in einer dieser weit ausholenden Bewegungen, für die er berühmt ist – Maestro Messner: der tanzende Dirigent –, aber plötzlich friert er mitten in der Schlagfigur seiner rechten Hand einfach ein. Wie eine dämliche Skulptur steht er auf einmal da, seinen Körper dem Orchester entgegengespannt, die Augen ungläubig aufgerissen, eine Verkörperung des Schrecks." Zitat aus der Erzählung 'Wem du traust'
Anfangs hält Maestro Messner die sprechende Mahnung noch für einen üblen Scherz und tobt am Pult. Doch als er der Einzige ist, der diese Stimme hört, sucht er nach Erklärungen für das Phänomen und schiebt es auf seinen Jetlag und sein überstrapaziertes, empfindliches Gehör.
Doch als er im Konzert noch mehr mahnende Stimmen wahrnimmt, akzeptiert der Dirigent das Unerklärliche und versucht denjenigen zu warnen, dem da mutmaßlich Gefahr droht. Dass er erst dadurch zum Schicksalsboten einer wirklichen Katastrophe wird, ist der erschütternde Clou dieser unheimlichen Erzählung.
Fragen, Ängste, Beklemmung, die durch die Pandemie aufkamen
Inspiriert zu diesen beklemmenden sieben Geschichten wurde Christiane Neudecker auch durch die existentiellen Erfahrungen während der Corona-Pandemie.
"In diesem Buch sind ganz viele Fragen drin. Und natürlich auch die Verunsicherung, die die Pandemie in uns allen ausgelöst hat. Da haben sich Gegebenheiten als brüchig erwiesen. Und Ähnliches passiert hier auch den Figuren. Das, was als Wirklichkeit erscheint und als unverrückbare Wirklichkeit wahrgenommen wird, muss immer wieder hinterfragt werden und ist deutlich wankelmütiger, als wir es uns vorstellen können."
Autorin Christiane Neudecker
Da gibt es zum Beispiel eine Studentin, die ein heimtückisches Laborvirus in sich trägt, und nur durch einen Todeskuss ihr eigenes Leben retten kann. Oder einen Influencer, der live filmt, wie ein Nebel des Grauens alle Besucher auf Frauenchiemsee und schließlich ihn selbst tödlich verschlingt.
Unheimliche Geschichten, von der Romantik in unsere Social Media Welt
Teilweise überführt die Autorin auch Motive der dunklen Romantik in die Jetztzeit. Etwa den Pakt mit dem Teufel und das Doppelgängermotiv. Gerade in unserer Social Media-Welt, wo viele Menschen mit einem geschönten Ich oder einem Avatar auf diversen Plattformen unterwegs sind, ist das hochaktuell.
Etwa wenn Christiane Neudecker von einem älter werdenden Schauspieler erzählt, der seinen vielen Followern ein deutlich schöneres und jüngeres Ich präsentiert, aber bei Castings wegen seines Alters oft durchfällt. Nach einer Begegnung mit einem mysteriösen Mann, ist er plötzlich so schön wie nie und wird beim Casting begeistert empfangen. Doch sorgt jetzt sein gefilmtes Abbild für Entsetzen – es ist ein Skelett. Eine mitreißend erzählte Geschichte, die Oscar Wildes "Dorian Gray" bestechend vom 19. ins 21. Jahrhundert verpflanzt.
"Man kann sich natürlich zurücklehnen und sagen: 'Gespenster gab es mal im Mittelalter – vielleicht. Aber das lag daran, dass die noch keine Elektrizität hatten. Die haben halt viele Schatten gesehen.' Man kann sich das alles erklären. Und ich finde, gerade unsere heutige Realität wirkt sehr ausgeleuchtet, sehr überstrahlt fast, aber auch das ist ja nur eine Fassade. Ich würde mal sagen, das Unheimliche versteckt sich heutzutage bei uns nicht mehr in der Finsternis, sondern auch in der Helligkeit. Und insofern können diese Motive, die wir alle kennen, heute noch genauso durchlebt werden. Aber unter völlig anderen Bedingungen."
Autorin Christiane Neudecker
Info & Bewertung
Christiane Neudecker: Die Welt wartet. Unheimliche Geschichten, München 2024, Luchterhand Verlag, 256 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-630-87758-7
In "Die Welt wartet" bringt Christiane Neudecker Schauergeschichten in unsere durch Soziale Medien und Künstliche Intelligenz geprägte Gegenwart. Und das macht die fränkische Autorin richtig gut. Ihre aufwühlenden Erzählungen mit zahlreichen literaturgeschichtlichen Motiven sind modern, relevant, atmosphärisch dicht, literarisch überzeugend und sorgen für intelligenten Thrill. In Anlehnung an Kafka könnte man sogar sagen, sie sind neudeckeresk.