Ist der Löwe zu zahm geworden? Bayern in der Berliner Republik
Bayern ist bekanntlich viel älter als Deutschland. Das hat das Land von jeher geprägt. Wohl hat man sich bereits zur Zeit des Frankenreichs in ein überge-ordnetes Staatsgebilde fügen müssen. Trotzdem hat man seit den Tagen der Agilolfinger Herzöge immer wieder die Idee von mehr Eigenstaatlichkeit vertreten. Noch der Bundesrepublik Bonner Zuschnitts ist man nur sehr ungern beigetreten – und hat das auch ziemlich deutlich heraushängen lassen.
Das bayerische Volk hat an solchem Gebaren schon immer seine helle Freude und lässt sich deshalb, wie z.B. an Tassilo III. oder FJS deutlich ersichtlich, gern von denen regieren, die besonders laut und heftig in Richtung Zentralmacht poltern.
Nichtbayern werten das häufig als Zeichen von Unterwürfigkeit oder politischer Unreife. Sehr zu Unrecht. Denn es ist lediglich ein Beweis für den hohen keltischen Anteil im bajuwarischen Genpool. Wie Caesar darlegte, waren bereits die Kelten eher mundfaul und von anarchistischer Wurstigkeit gegenüber der hohen Politik beseelt. Deshalb überließen sie das Sagen am liebsten denen, die sich am großmäuligsten hervortraten.
Als Gegenleistung erwarteten sich bereits die Kelten u.a. ein betont hemdsärmeliges Auftreten des Patrons gegenüber fremden Großkopferten, die die Bierruhe ihres Clans zu gefährden drohten. Folglich gehört es auch von vornherein zu den wesentlichen Aufgaben eines jeden bayerischen Herzogs, Kurfürsten, Königs oder Ministerpräsidenten, die da droben in Aachen, Frankfurt, Innsbruck, Wien, Berlin, Bonn - oder wo die Zentralmacht sonst gerade ihren Sitz haben mag -, gehörig zu tratzen.
Seit der Wiedervereinigung und der daraus hervorgegangenen Berliner Republik scheint diese schöne Tradition jedoch aus der Mode gekommen zu sein. Selbst unter einem Kanzler-Krisperl, wie Gerhard Schröder, hat der bayerische Löwe plötzlich nicht mehr wadlgebissen, sondern fast jede deutsche Eselei anstandslos mitgemacht.
Und als die bayerische CSU im Bund dann wieder mitregierte, hat sie nicht dafür gesorgt, dass wenigstens die schlimmsten Schröder'schen Idiotien, wie etwa die Praxisgebühr beim Arztbesuch, wieder rückgängig gemacht wurden. Sondern es ist es so weit gekommen, dass der gegenwärtige Bundesverkehrsminister, obgleich bayerischer Provenienz, ohne jede ersichtliche Not eine deutsche Autobahnmaut für Pkws gefordert, oder der bayerische Innenminister die Dauerbeflaggung der Landesbehörden mit Schwarz-Rot-Gold angeordnet hat.
Sicher: Wegen solcher Kapriolen kassiert die bisher an absolute Mehrheiten gewöhnte CSU vom Wähler plötzlich regelmäßig saftige Watschen. Schon muss sie sich die Macht im Land erstmals seit einem halben Jahrhundert mit einem Koalitionspartner teilen. Und für die nächste Landtagswahl droht ihr gar der Machtverlust. Christian Ude ante portas! Unvorstellbar, aber wahr: Ein Sozi, der die Rolle des gewitzt-taktierenden, aber sobald es darauf ankommt auch obergscherd sein könnenden Clanchefs überzeugender zu spielen weiß als der amtierende Ministerpräsident.
Damit ließe sich, aus demokratischer Sicht, ziemlich problemlos leben. Aber dass weite Teile des Bayernvolks inzwischen ebenfalls auf einen treudeutschen Kurs eingeschwenkt sind, ist höchst bedenklich. Nun steckt der moderne Bayer zweifellos in einer tiefen Sinnkrise. Denn das Schlagwort von Laptop und Lederhose ist zwar schrecklich abgedroschen, aber nichtsdestotrotz wahr.
Der Bayer weiß, dass er in technischer Hinsicht in der absoluten Oberklasse spielt, aber im Alltagsleben Besonderheiten pflegt, die im Rest der Republik als rückständig gelten. Aus dieser Erkenntnis heraus hat er Minderwertigkeitskomplexe entwickelt, die er durch das betonte Sich-Berufen auf die Zugehörigkeit zum Bund zu kompensieren sucht. Obwohl er mit dem Erwerb von Telekom-Aktien einen Großteil seines sauer Ersparten verloren hat, studiert er weiterhin lieber die Börsenkurse als die Getränkekarte. Weiß deshalb nicht mehr, dass es der Boazn ein kleines Helles gibt, sondern bestellt sich in der Kneipe einen Schnitt.
Karfiol, Topfen, Bärendreck oder Porree sind für ihn ebenfalls längst zu Fremdwörtern geworden. Dafür kann er sich heute in vielen Stadtbäckereien Schrippen kaufen. Grad so, wie in Berlin. Und auch er odelt längst mit Gülle und zuckt peinlich berührt zusammen, falls irgendwer noch servus sagt oder ciao, statt tschüß. Wenn irgendwo in Reichstagsnähe Sand gestreut wird, um ein echt norddeutsches Strandfeeling aufkommen zu lassen, tut man das spätestens ein Jahr später vor der juristischen Fakultät der Münchner Universität ebenfalls. Kurzum: Auch im Freistaat hat man den Anschluss an die deutsche Allerwelts-Moderne längst gefunden.
Und auch homo bavarus ist in der Berliner Republik zum Wutbürger mutiert, der mit furiosem Genuss Nolympics für Garmisch fordert, oder keine dritte Startbahn fürs Erdinger Moos. Wie alle bundesdeutschen Gartenzwerge schweigt auch er lammfromm, wenn man ihm das soziale Netz so fadenscheinig macht wie einen alten Socken, aber gleichzeitig seine Steuergelder notorisch für die Rettung selbstverschuldet in Not geratener Großbanken verpulvert.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Hier soll nicht dem Separatismus das Wort geredet werden. Aber gemäß des Grundgesetzes ist Deutschland nach wie vor kein Zentral-, sondern ein Bundesstaat. Und das Bewahren von - und das Beharren auf individuellen Besonderheiten der Mitglieder stellt in föderativen Staatswesen keine exotische Eigenbrötelei dar, sondern gehört geradezu zum Wesen solcher Staatsgebilde. Darum besteht auch für Bayern keinerlei Anlass, sich in Berlin lieb Kind zu machen. Denn Loyalität bedeutet keineswegs Selbstaufgabe.
In einer Sendung über das Verhältnis zwischen Bayern und der Berliner Republik müssten vor allem drei verschiedene Gruppen zu Wort kommen:
1. Das bayerische Volk "auf der Straße". Willkürlich ausgesuchte Bürger, die ihre Meinung zum Thema äußern.
2. Das "offiziöse" Bayern; in diesem Zusammenhang v.a. das Staatsministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten
3. Bayern in der "Berliner Diaspora". Z.B. vertreten durch den 130-jährigen Verein "Bayern in Berlin e.V.