Über die Brücke nach Neu-Ulm Neue Genüsse auf der bayerischen Seite
Warum sollte man in Neu-Ulm essen gehen? Ulm hat eine extrem hohe Dichte von Cafés und Restaurants und ist im Gegensatz zur hässlichen Schwester Neu-Ulm schön und alt. Doch in Neu-Ulm tut sich was und die westschwäbische Metropole bietet einige Geheimtipps, erklärt Jenny Schack.
Die eiligen Espressotrinker sind schon längst zur Arbeit entschwunden. Es ist kurz nach 10 Uhr. Jetzt sitzen hier die Zeitungsleser und Freischaffenenden Künstler und Journalisten, Mütter mit Kinderwagen, der Kirchenorganist. Und dann ist es auch schon voll hier drinnen, hier hinter der großen Schaufensterscheibe, die Stadt und Café von einander trennt. Der Chef der Naschkatze, Marc Ender, hat einen Schraubenzieher in der Hand und werkelt hinter der Bar.
Eine täglich neu justierte Kaffeemaschine, die dem Luftdruck und dem Nebel der hundert Meter entfernten Donau angepasst wird - mit Witz und Schraubenzieher. Derzweil schweben zwei junge Frauen durch den kleinen Raum, kochen Tee, plaudern mit den Gästen, servieren Kaffee und Kuchen, auch am Vormittag. (Atmo) Das Café Naschkatze macht - natürlich ganz subjektiv gesehen - den besten Milchkaffee und den besten Käsekuchen der Gegend. Außerhalb dieser kleinen Welt aus Zeitungslektüre, Kaffee und retrochic-en Stühlen liegt die Stadt Neu-Ulm. Ein Ort, zusammengeklaubt aus alten Dörfern und einem Stadtkern, der nicht einmal 200 Jahre alt ist. Die Staßenzüge sind auf dem Reißbrett entworfen, die Häuser schmucklos, gesichtslos; im besten Falle renoviert oder neu und aus Beton. Wer Zeit hat, geht nach Ulm.
Gleich neben der tristen Stadt Neu-Ulm liegt Ulm: schön, alt und sich dessen sehr wohl bewusst. Beide Städte sind lediglich durch die Donau getrennt. Wer in die Stadt geht, meint damit: Ich gehe nach Ulm - einkaufen, essen, Kultur und ein bisschen livestyle. Wer nach Neu-Ulm geht, der geht zumeist nach Hause oder arbeiten. Shoppen oder Essen-gehen - Fehlanzeige, sagt Siegried Pfnür. Gerade hat ein Lieferant frische Trüffel vorbeigebracht.
Seit 20 Jahren führt Pfnür die Stephans-Stuben in der Stadtmitte. Das Restaurant wird immer wieder für seine Küche ausgezeichnet. Die Gäste aber kommen fast ausschließlich aus Bayern: aus Neu-Ulm, Augsburg, Kempten. Verwunderlich, ist das Restaurant doch nur 200 Meter von der Donau entfernt - und damit einen Steinwurf von Ulm - zu Fuß vielleicht 3 Minuten. Wissen das auch die Ulmer?
Am Abend parken vor dem Haus die teuren Autos - Autos, die man hier in der Gegend eher selten sieht. Ein Edelrestaurant würde man in der Bahnhofsstraße nicht vermuten: Eher den Dönerladen gegenüber (der übrigens den besten Bauernsalat und herrlich warmes, selbstgemachtes Fladenbrot verkauft) den Lebensmitteldiscounter um die Ecke, die laute und viel befahrende Reutier Straße. Warum also hier ein Restaurant und nicht in Ulm? Da, wo alle essen gehen? Wo Lebensmittel nur Durchschnitt sein müssen, die Gäste aber trotzdem kommen?
Kaum einer kennt die Restaurants der Gegend besser als Jens Gehlert. Seit 14 Jahren bringt er den Restaurantführer für Ulm und Neu-Ulm heraus. Er kennt die versteckten Restaurants in Neu-Ulm, die hinter bröckligen Fassaden meisterhafte Gerichte servieren, weiß, wo es den besten Kuchen gibt, den besten Kaffee. Und wenn er da in seine ellenlange Liste schaut, dann fällt auf, dass die Neu-Ulm ganz weit vorn sind.
Die Musikschule Neu-Ulm
Also gibt es sie doch: Die Gäste, die in Neu-Ulm bleiben oder gar über die Donau spazieren, um hier in Neu-Ulm Essen zu gehen?! Anderenfalls gäbe es diese Restaurants und Cafés längst nicht mehr. Und sie müssen etwas bieten, was jenseits der Donau fehlt. Vielleicht, überlegt Gehlert, hat man sich in Ulm einfach zu bequem eingerichtet, ist die Stadt aufgeteilt, der Gast gesättigt.
Hier auf bayerischer Seite bewegt sich hingegen viel: Die Stadt ist seit Monaten, wenn nicht schon seit ein paar Jahren im Aufbruch: Mit der Tieferlegung des Bahnhofs entstanden mitten in der Stadt Freiflächen. Dort stehen seit kurzem neue Wohnungen und ein riesiges Einkaufszentrum, die Glacisgalerie. Natürlich auch alles beton - aber modern und irgendwie auch chic, weil so anders als Ulm. In diesen Freiflächen wurden nicht nur Gebäude hochgezogen; es ist auch Platz für ein neues Bewusstsein für die eigene Stadt entstanden, sagt Gehlert. Und: Neu-Ulm bietet Nischen: Das Edelrestaurant mit moderaten Preisen, das familiäre Retro-Café, eine Travestiebar, wo sich schwule Väter oder Spätzle-Freunde treffen. Der Gast Marc Schmidt sagt: Neu-Ulm hat mehr Profil als Ulm.
Und auch Marc Ender liebt die Freiheit in Neu-Ulm. Vor einem halben Jahr hat er die Naschkatze übernommen. Seine Ulmer Gäste steuern zielsicher die wenigen Meter über die Donau und bleiben. Weiter wagen sie sich noch selten vor. Aber das muss nicht so bleiben. Denn wer den besten Kuchen gegessen hat, mag vielleicht auch das beste Sushi - nur wenige hundert Meter entfernt - bei einem Meister seines Handwerks. Und dahinter ist die Welt auch nicht zuende - auch, wenn das ein Ulmer vielleicht manchmal glauben mag, sagt Marc Ender, der selbst täglich über die Donau fährt.
Marc Ender hat nicht nur ein kleines Café. Er moderiert auch eine nächtliche Sendung bei einem freien Radiosender in Ulm. Ein Grund, warum er hier fast jeden kennt - dies- und jenseits der Donau; plaudert mit jedem; schafft eine geradezu familiäre Atmosphäre ohne den Gästen dabei zu sehr auf dei Pelle zu rücken. Er macht sich vielmehr Sorgen, wenn seine Stammgäste ein paar Tage lang nicht auftauchen. Sind sie krank oder einfach nur im Urlaub? Einer, der fast täglich hier anzutreffen ist, ist Martin Schubert. Gerade ist das zweite Album seiner Band herausgekommen. Opus Leopard - so heißt sie - treift dabei durch ein stilisiertes schicki-micki-München der 80er. Um solche Töne zu ersinnen, sitzt Schubert eben auch hier in der Neu-Ulmer Naschkatze, schaut umher, schreibt, mischt Töne. Das Café als Insel, ganz gleich, wo. Hauptsache da.
Fazit
Hat Neu-Ulm also die Nische entdeckt; mausert sich gar zum kulinarisch und livestyletechnisch angesagten Teil der Doppelstadt? Wer weiß. Eines ist sicher: Wenn sich etwas in Neu-Ulm hält, dann ist es gut und wert, dass man die Donau überquert. Wie ein Trüffel, versteckt, hässlich - aber wertvoll und in kleinen Portionen genossen einfach eine überraschende Zusammenstellung einzelner Zutaten.