Bis hierhin und wie weiter? Eine beidseitige Grenzbetrachtung
Wieviel Abgrenzung braucht der Mensch? Wie finden wir Grenzen und wie hängt das Abgrenzen mit dem Zusammenwachsen zusammen?
Leute in der Münchner S-Bahn. Dichtgedrängt. Rush Hour. Wenn der Sommer geht, wird es enger: Die Plätze und Parks sind dann menschenleer im Nieselregen, doch überall sonst ist es voll, übervoll: In der U-Bahn, an der Kasse, auf dem Fahrradweg, im Cafe. Die Enge geht auf die Nerven.
"Da gibt es auch eine Grenze die man ertragen kann. Ich will nicht ständig im Dialog sein mit allen Menschen Ich sitze in der Tram und will in Ruhe gelassen werden. Das kriegen wir mit, wenn uns jemand zur nahe kommt, dann wird es sehr schnell unangenehm."
Brigitte Gans, Mediatorin im Sozialreferat der Stadt München
Drei verschiedene Distanzzonen unterscheidet die Psychologie: Die Intimzone beginnt bei rund einem halbe Meter um sich herum. Da will man eigentlich niemanden haben. Höchstens zum Küssen. Aber pochen Sie darauf mal im Bus: Den Nebenmann will man ja selten küssen! Und auch im persönlichen Gespräch möchte man eine Distanzzone von mindestens einem Meter. Im modernen Großraumbüro nicht immer möglich. Und unbekannte Personen möchte man sogar nicht einmal 2 Meter an sich heranlassen – in unserem Kulturkreis.
"Dieser Kontakt ist kulturabhängig. Ein Brasilianer hat eine andere Proximität, ein anderes Bedürfnis nach Abstand, als ein Deutscher. Mit Grenzschwierigkeiten haben wir immer zu tun, (…) also z.B. da wohnen Menschen, die haben Gärten und davor gibt es eine Gruppe von Männern, die regelmäßig davor sitzen und Alkohol trinken und dann auch im Gebüsch zum Garten bieseln. Immer wenn im Raum Konflikte auftauchen geht es um Grenzen, die gewahrt sind oder nicht gewahrt sind."
Brigitte Gans, Mediatorin im Sozialreferat der Stadt München
Es ist nicht einfach, Grenzen setzen wo keine sichtbar sind: Der Spielplatz für die Kinder ist auf dem einen Grundstück, auf dem anderen dürfen sie Fußballspielen mit Softbällen, auf dem dritten nicht. Wir können eben nicht einfach so vor uns hin und in uns hinein leben. Aber sind Mein und Dein, hier und drüben - nicht einfach bürgerliche Kategorien, die im Zeitalter von globaler vernetzter Welt nicht mehr stimmen?
"Ohne Grenzen wird alles unübersichtlich, alles Grenzenlose führt auch zu einer Art Orientierungslosigkeit. Ich kann ja nur handelnd wirken im Rahmen bestimmter Strukturen. Wenn jeder das Gefühl hat, alles was ich jeweils tue, endet in einem großen Ozean gewissermaßen, wo Millionen andere ebenfalls irgendwas getan haben und wir alle nicht wissen, was in der Addition dieser Handlungsweisen herauskommt, dann verlieren wir uns als Akteure, als Individuen."
Julian Nida-Rümelin, Philosoph, Ethiker und früher Kulturstaatsminister
Der Zaun: Jeder Häuslebauer kann mit seinem Zaun zeigen was er hat: Grundstück. Besitz. Zuhause. Das Justizministerium hat eine 20 Seitige Broschüre zum Gartenzaun herausgegeben. Mit Rechten und Pflichten. Eine ernste Sache also so ein Zaun: Und eine Herausforderung für Architekten und Stadtplaner.
"Mir fällt ein Uniprofessor ein, der sagte, ein Zaun schafft auch Nähe. Wenn zwischen zwei Grundstücken eine klare Grenze ist, dann weiß jeder wie nah er hingehen kann und man kann sich viel näher begegnen über dem Zaun als wenn man immer so nen Respektabstand hat und man denkt, da muss irgendwo die Grenze sein, ich geh da nicht näher hin."
Peter Voith, Architekt
Entsteht Vielfalt durch Grenzenlosigkeit? Oder durch Grenzsetzung? Ist es sinnvoll, wenn wie in New York Viertel mit Chinesen, Italienern, Iren über Jahrhunderte entstehen. Oder spiegeln diese Grenzen gerade die Unterschiedlichkeit der Kulturen, lassen sie dadurch auch weiter bestehen?
"Wenn alles ein Einheitsbrei ist, gibt es keine Vielfalt mehr, um es platt zu sagen. Vielfalt setzt Abgrenzung voraus. Wir sollten 'grenzenlos' neugierig sein auf anderes, auf abweichendes. 'Grenzen öffnen und alle dürfen kommen, das ist der beste Beitrag die Welt zu retten' - dieser Satz ist schlicht falsch: Die generelle Forderung 'Grenzen weg', führt zu einer unkontrollierbaren Entwicklung und zu einer Auflösung aller Unterschiede, das wäre nicht sinnvoll."
Julian Nida- Rümelin, Philosoph, Ethiker und früher Kulturstaatsminister
Die letzten Jahre haben uns gezeigt: Es ist wichtig über Grenzen nachzudenken und die eigenen bewusst wahrzunehmen. Auch um sie zu verändern. Ein Zaun schafft Klarheit, braucht aber eine Gartentür. Die sollte offen sein: Für Besucher und Neugierige. Manchmal steigt auch jemand über den Zaun. Vielleicht nur um den verschossenen Ball wieder zu holen. Wo die Grenze ist, merkt man spätestens, wenn man sie überschritten hat. Dann kann es Ärger geben, oder Begegnungen.