Die Zunge an der Waage Einkaufsbummel auf dem Wochenmarkt
Einmal die Woche treibt der Markt die Händler in die Stadt. Und die Kundschaft freut sich auf das Frischeangebot und einen geruhsamen Einkauf mit genügend Zeit für einen Plausch. Geschichten vom Wochenmarkt – erzählt von einer, die sonst nicht zu Wort kommt: der Waage.
"Heute habe ich das erste Mal Mairübchen gekauft, und ich hätte tatsächlich nicht mal gewusst, was das ist. Ich hab mir das dann erklären lassen und bin jetzt ganz gespannt, die auszuprobieren."
Kundin
"Ich bin der Horst, wir sind immer da von acht bis drei, und was wir hier verkaufen, ist regionale Ware. Ich arbeite mit den Bauern zusammen, die das herstellen, also direkt mit den Erzeugern. Bei uns gibt's regionales Gemüse, wir haben auch Obst, wir haben frischen Knoblauch, saisonal haben wir Topfpflanzen, Gewürze, Mangold, dann kommt der Spargel, dann die Kirschen, dann kommen die Erdbeeren noch mit dazu, und so geht’s dann den ganzen Sommer durch. Wir tun unser Bestes, um den Leuten hier gute, frische Ware anzubieten, und wir garantieren wirklich für Frische und keine Linkereien. Es ist alles sehr seriös."
Horst Aigner, Markthändler
Eine Waage, die gern ein Wörtchen mitredet
Das hat er sehr schön gesagt, der Horst. Nur über mich verliert er wie immer kein Wort. Dabei könnte er gleich wieder einpacken, wenn er mich einmal zuhause liegenlassen würde. Mich – seine Waage. Offenbar bin ich ihm schon zu selbstverständlich geworden. Mitsamt meiner Stimme. Die hört er gar nicht mehr. Gerade eben habe ich ihm exakt fünfhundertzwölf Gramm gemeldet. Und was macht er? Er tut, als wären es nur fünfhundert gewesen. Damit er leichter rechnen kann. Wozu werde ich denn geeicht, wenn hier keiner auf mich hört? Ach, wenn ich doch bloß eine richtige Zunge hätte – eine Zunge, wie meine Großmütter und Urgroßmütter sie noch hatten.
Händler mit den unterschiedlichsten Biografien
An sechs von sieben Tagen ist der Platz einfach nur ein Platz. Ein paar Bänke, ein paar Bäume, ein Brunnen, ein eingezäuntes Geviert mit Spielgeräten. Aber einmal in der Woche verwandelt er sich ab morgens um sieben in einen Marktplatz – einer von dreihundertdreißig Wochenmärkten in Bayern. Autos fahren vor, Tische und Bänke werden aufgebaut. Fast könnte man an ein Wandertheater denken. Der Markt als ein Platz, auf dem jeder seine Bühne aufbaut und nicht jeder der ist, der er scheint – angefangen bei Friedrich mit seinem Kaffeeverkaufswagen.
"Ich habe irgendwann eine Idee gehabt, ich wollte einen Coffeetruck machen, denn ich hab früher eine Tankstelle gehabt, und habe da festgestellt, dass der Kaffee immer recht gut läuft. Auf der Basis wollte ich ein Geschäft machen. Ganz für mich alleine. Dann haben wir angefangen mit dem kleinen Auto und sind dann durch Zufall an das große gekommen, das war zwei Jahre zum Verkauf gestanden, das hat niemand gebraucht, weil's als Besenfahrzeug konzipiert war, und ich habe den halt günstig gekriegt, habe den komplett ausgeleert und neu aufgebaut, so wie ich den brauche. Als Kfz-Meister ist das kein Problem gewesen für mich."
Friedrich Eckert, Coffee-Truck
Ein Kfz-Meister auf dem Markt! Mit Kaffee und Kuchen! Wie hat der Horst vorhin gesagt? "Es ist alles sehr seriös"? Ich denke, das war früher einmal. Als auf dem Bauernmarkt wirklich noch Bauern waren. Aber heute ist das anders. Auch bei Horst und seinem Kollegen Bernd vom anderen Gemüsestand.
"Eigentlich wollte ich das nicht machen, ich war bei der Firma Tengelmann als Betriebsleiter und hätte in Hersbruck dann einen Großhandel übernehmen sollen für Obst und Gemüse, und das hat dann kurz vorher doch nicht geklappt. Dann war ich vom Betriebsleiter auf einmal arbeitslos, und dann musste ich schauen, was ich mache, und dann hat sich das angeboten, dass ich in Erlangen einen Marktstand aufmache. Das war genau vor fünfundzwanzig Jahren. Seitdem stehe ich jetzt in Erlangen auf dem Markt."
Bernd Engelhardt, Gemüsehändler
"Das war Zufall, ursprünglich komme ich aus der Werbetechnik und habe angefangen, für Obstbauern Etiketten für die Flaschen zu machen, und ich habe gemerkt, die Obstbauern können nicht verkaufen. Da ich aber immer im Verkauf draußen bin, habe ich angefangen, denen ihre Säfte zu verkaufen und bin dann durch Zufall auf einen kleinen Wochenmarkt gekommen, nur mit Säften und mit Wein und Marmelade und so weiter, so hat das angefangen. Irgendwann hat’s geheißen, wir haben keine Gemüsebauern, und da ich mit den Gemüsebauern zusammenarbeite, haben die gesagt, dann verkauf halt du Gemüse. So bin ich in das Ganze reingewachsen. Ich hatte da nicht viel Ahnung davon, learning by doing, und ich mache das jetzt seit zwei Jahren mit stetigem Erfolg."
Horst Aigner, Gemüsehändler
Und das ausgerechnet mit mir zusammen! Ich bin es gewohnt, dass es bei mir genau zugeht. Schließlich war ich früher auch kein Fahrrad oder eine Schreibmaschine. Sondern schon immer eine Waage. Auch wenn ich heute vielleicht ein bisschen anders aussehe als früher.
Die Waage wurde ihrer Zunge beraubt
Man darf nicht jedes Wort der Waage auf die Goldwaage legen. Wenn man bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet und auch noch seiner Zunge beraubt wurde, muss man ja verbittert werden. Jetzt bleibt ihr nichts anderes mehr übrig, als von ihren großen Zeiten zu träumen – sofern ihr dazu Zeit bleibt. Das Markttheater ist bereits in vollem Gang.
Schon wieder ist Kundschaft da, und auch die anderen Händler sind mittlerweile alle eingetroffen. Goran setzt seinen Hähnchengrill in Gang, Toni vom Antipasti-Stand verlegt sorgfältig ein Stromkabel in den Pflasterfugen, Bernhard räumt Gemüsekisten aus dem Lieferwagen, und beim Eierhändler Felix werden Milchflaschen und Joghurtgläser in der Kühltheke platziert.
Wozu braucht es noch Märkte?
Ja, ist ja alles schön und gut. Trotzdem frag ich mich, was das Ganze soll. Und das frag nicht nur ich als Waage. Es wurden von Menschen schon ganze Doktorarbeiten darüber geschrieben, warum es überhaupt noch Märkte gibt – gerade in der Stadt! Allein rings um diesen Markt herum gibt es drei Supermärkte, jeder nur maximal dreihundert Meter entfernt und von Montag bis Samstag täglich von sieben bis zwanzig Uhr geöffnet. Im Sommer nicht zu warm und im Winter nicht zu kalt. Ich als Waage weiß ausgewogene Temperaturen zu schätzen. Steht sogar auf meinem Gehäuse drauf: "Vor übermäßiger Hitze und Kälte schützen!" Aber die Leute hier haben offenbar andere Prioritäten.
Stimmen von Kundinnen
"Für mich gibt’s keine bessere Einkaufsmöglichkeit als den Markt, einmal ist es im Freien, ich kaufe hier aus der Region, man trifft Leute. Frisches Gemüse, frisches Obst – ich kriege hier alles, ich brauche keinen Supermarkt mehr." Kundin
"Ich kaufe sehr gerne auf dem Markt ein, weil ich hier regional und saisonal einkaufen kann und weil's ein sinnliches Erlebnis ist, man kann die Sachen anfassen, ich kann Fragen dazu stellen, ich komme direkt in Kontakt mit den Leuten an den Marktständen, und das gefällt mir." Kundin
"Hier gibt’s immer einen Essigstand, der ist einmal im Monat bloß da, und der hat ganz verschiedene Essige, Bieressig zum Beispiel. Das kannte ich vorher überhaupt nicht, des fand ich faszinierend." Kundin
"Da ist auch ein Bio-Metzger aus der Fränkischen, der hat so ein paar Sachen, die ich aus Bamberg kenne, und die habe ich dann hier wiederentdeckt. Das nennt sich Zwetschgenbammes, das ist ein geräuchertes Rinderstück und das hab ich hier wiederentdeckt. Das hat mich total gefreut, dass ich das jetzt auch hier in Nürnberg kaufen kann." Kundin
Die Waage – im Supermarkt ist sie die Herrscherin
Aber ich brauche den Supermarkt. Wenn ich höre, was meine Supermarktkolleginnen erzählen, geht mir das Herz auf. Im Supermarkt ist die Waage Herrscherin, und ihr Wort ist Gesetz. Die Menschen stehen demütig in der Warteschlange und erwarten ihr Urteil. Wenn die Waage zweihundertdrei Gramm sagt, macht niemand zweihundert daraus, und statt fünf Euro werden exakt fünf Euro sieben kassiert. Hier sprechen nur die Waagen, die Kassen und die Pfandflaschenautomaten. Kein Mensch hat etwas zu sagen. Demütig legen sie alle ihre Opfergaben auf das Band, erwarten das Urteil, das die Waage über sie spricht, und bezahlen ohne zu feilschen.
Die Waage - im alten Ägypten ein göttliches Messinstrument
Da kommen mir die besten Zeiten der Waage in den Sinn, die von Generation zu Generation weitererzählt werden. Das goldene Waage-Zeitalter. Leider liegt es schon ein paar tausend Jahre zurück. Ein göttliches Messinstrument waren wir damals, im alten Ägypten. Jeder Tote wurde vom schakalköpfigen Gott Anubis zum Gericht geführt, und sein Herz wurde in die linke Waagschale gelegt. Auf der rechten Waagschale lag eine kleine Statue der Göttin Maat, Göttin der Gerechtigkeit. Wenn das Herz des Verstorbenen mit ihr im Gleichgewicht war, dann war es frei von Sünde und Unrecht. Wenn es jedoch so schwer von Sünden war, dass die linke Waagschale hinuntersank, dann wurde das Herz von der Großen Fresserin Ammit verschlungen, und der Tote war verdammt bis in alle Ewigkeit. Aber wo bin ich hier und heute? Offenbar auf einer reinen Spaßveranstaltung.
Stimmen von Händlern
"Der Kontakt mit den Menschen und in erster Linie am Markt einfach des blöde Gschmarri, das ist wirklich einfach wunderbar. Es macht echt richtig Spaß." Felix Ell, Eierhändler
"Mir macht der Kontakt zu den anderen Menschen Spaß, zu den Käufern, die zum größten Teil jetzt auch schon Freunde sind. Das ganze soziale Leben spielt sich eigentlich bei mir auf dem Markt ab, und ich verdiene dabei noch Geld. Früher habe ich immer gesagt, am Samstag bin ich die größte Hur von ganz Erlangen, ich stehe da, hab mein Spaß und verdiene noch Geld dabei. Und auf das läuft’s glaub ich auch hinaus, und das hätte ich nie gedacht, dass das irgendwann einmal so passiert. Denn die ersten Wochen, wo ich am Markt war, da bin ich mir vorgekommen wie im Zoo, also nicht als Zoobesucher, sondern eigentlich als derjenige, den die Leute anglotzen. Aber das hat sich dann mit der Zeit schon gegeben." Bernd Engelhardt, Gemüsehändler
"Ich bin gern unter den Menschen, rede gern mit den Leuten und versuche halt, mei Gschmarri loszuwerden. Es kommen viele, die einfach bloß ein Gespräch suchen. Und die kommen da her, trinken ihren Kaffee und da teilt man halt ein paar Worte miteinander." Friedrich Eckert, Coffee-Truck
"Wenn ich diese Woche zehn Millionen gewinne, dann bin ich nächsten Freitag und am Samstag genauso wieder auf dem Markt. Es macht einfach Spaß, mit den Leuten zu sprechen, die Leute freuen sich, dass man hier ist und ihnen ein gutes Produkt verkauft. Also, es macht einfach Spaß und hält fit." H. G. Hoffmann, Käsekuchenstand
"Das ist angenehm, das ist ein gutes Klima, die Leute hier sind wirklich gut, die Kunden sind nett, freundlich, wir haben immer ein schönes Gespräch, und ich bin schon sehr zufrieden." Goran, Hähnchenstand
Märkte – in der Stadt im Aufwärtstrend
Der städtische Wochenmarkt ist wie ein kleines Dorf für einen Tag. Man kennt einander. Die Kundschaft rekrutiert sich zu neunzig Prozent aus Stammkunden, die auf diese Weise dem anonymen Einkauf im Supermarkt entfliehen. Deshalb befinden sich städtische Märkte im Aufwärtstrend, während auf dem Land eine gegenläufige Tendenz zu beobachten ist. Dort sind vollautomatisierte, durchdigitalisierte Kleinsupermärkte auf dem Vormarsch, die weitgehend ohne Personal auskommen. Am gesamten Lebensmitteleinzelhandel deutschlandweit hat der Markt nur einen marginalen Anteil von zirka 1,3 Prozent; doch in manchen Warengruppen, in denen es den Kunden besonders auf Qualität und Frische ankommt, ragt er weit darüber hinaus. Antipasti werden zu dreißig Prozent auf Märkten eingekauft, frischer Fisch zu zwölf Prozent, Eier und Frischgemüse zu acht Prozent. Und was das zwischenmenschliche kommunikative Miteinander angeht, dürfte weit über neunzig Prozent davon auf Wochenmärkten stattfinden, nicht im Supermarkt.
"Ich habe früher bei McDonald’s gearbeitet, und auf dem Markt ist es ganz anders. Die Leute kommen auf dich zu, die fragen, wie ist die Orange, ist die saftig, ist die zum Pressen? Das hat mir schon gut gefallen."
Vasiliki Dehmelt
Vasiliki und Stefan Dehmelt sind stets von November bis März auf dem Wochenmarkt anzutreffen – mit Orangen, Zitronen, Oliven und Olivenöl aus ihrem eigenen ökologischen Anbau in Griechenland.
"Das Besondere ist halt, dass es zu hundert Prozent aus unserer Hand ist im Endeffekt. Es sind erst einmal unsere Oliven, die Ernte wird von uns selber durchgeführt, auch meine Frau erntet da mit, mit der Hand, das ist, wie wenn man da mit so einem Rechen praktisch jeden Zweig einzeln abstreifen muss, oder mit Verges, das sind lange Stecken, wo man dann praktisch die Oliven runterschlägt, je nachdem, wie sie gerade fallen, und dann sammeln wir sie selber ein, wir machen sie selber sauber, alles per Hand, dann kommen sie in eine Kiste rein, und dann fahren wir zur Ölmühle, und dann wird das Öl draus gemacht, und das ist zu hundert Prozent Natur, ohne Chemie, ohne Gift, so, wie’s der Herrgott gemacht hat."
Stefan Dehmelt
"Wir bescheißen uns permanent selber"
Ich als Marktwaage kenne die beiden natürlich auch. Und sie sind nicht besser als Horst, der eigentlich aus der Werbung kommt, oder Friedrich, der als Kfz-Meister Kaffee ausschenkt. Stefan ist nämlich Feuerwehrmann, und Vasiliki macht Schichtarbeit. Aber das ist noch längst nicht das Schlimmste, was ich ihnen vorzuwerfen habe.
"Manche sagen, zehn Prozent mehr auf der Waage sind zehn Prozent mehr Gewinn, und das gibt’s bei uns eigentlich nicht. Wir bescheißen uns permanent selber, denn wenn bei uns jemand ein Kilo Mandarinen kauft, dann sind das mindestens elfhundert, zwölfhundert Gramm, und dann gibt’s noch eine Zitrone oder eine Orange dazu, und wenn’s dann heißt, das sind drei Euro achtundsiebzig, dann sind das bei uns drei Euro fünfzig. Das kann man strategisch falsch nennen, aber das ist bei uns halt ganz einfach so."
Stefan Dehmelt
Ich muss sagen, so dreist hat sich noch kaum jemand über mich hinweggesetzt. Das kommt eben dabei heraus, wenn man alle möglichen Leute einfach so auf dem Markt verkaufen lässt, ohne ihnen vorher die notwendigen Lektionen in Waagekunde zu erteilen.
Auf dem Markt geht es um Qualität, nicht um Quantität
Die Waage, fixiert auf ihre Genauigkeit, ist außer sich – unfähig, zu bemerken, dass es beim Markt nicht um Quantitäten, sondern um Qualitäten geht, die sie nicht messen kann: Der Idealismus, der in der Arbeit steckt, die Liebe zu den Lebensmitteln, die Freude daran, gute Dinge anzubieten.
"Die Mühe lohnt sich, das kann man nicht in Geld ausdrücken. Freilich, es bleiben ein, zwei Euro hängen. Aber unsere Philosophie ist, dass wir sagen, was wir mit eigener Hand schaffen, das ganze Jahr über, das bringen wir den Leuten hier oben nahe. Unser Produkt überzeugt durch den Geschmack. Also die Sonne, das Südliche, das Wohlschmeckende, das bringen wir hier rauf. Und wenn dann jemand wieder kommt und sagt, ok, gestern habe ich eine Orange gegessen, sowas habe ich noch nie gegessen in meinem Leben, und ich warte jetzt lieber das ganze Jahr, bis ihr wiederkommt, als dass ich in den Supermarkt gehe, das ist es wert."
Stefan Dehmelt
"Eine Kundin hat zu uns gesagt, letztens wart ihr nicht da, und ich hab im Supermarkt was gekauft, aber das konnte man überhaupt nicht essen, wenn man eure Produkte probiert hat. Das kann man überhaupt nicht vergleichen, hat sie gesagt."
Vasiliki Dehmelt