Komm Geh! Mit Denkern und Dichtern unterwegs in Franken
Zusammen mit dem Nürnberger Dichter Fitzgerald Kusz, dem Erlanger Pianisten Klaus Treuheit und anderen Weggefährten macht sich Zeit für Bayern-Autor Horst Konietzny auf den Weg und folgt zu Fuß dem Lockruf der fränkischen Wildnis.
Dass sich das Gehen positiv auf den Geist auswirken kann, belegen zahllose Schriften von Autoren, die es nicht hinter dem Schreibtisch gehalten hat: Thomas Bernhard, Robert Walser, Werner Herzog, Adalbert Stifter, Henry David Thoreau oder der mit einem eigenen Weg durch Oberfranken geehrte Jean Paul; sie alle zogen hinaus, das Leben zu beschreiten, um es dann zu beschreiben.
Schriftsteller auf Wanderschaft
Robert Walser
"Spazieren", muß ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrecht zu halten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet. Ohne Spazieren und Bericht-Auffangen könnte ich auch keinen Bericht mehr abstatten und nicht den winzigsten Aufsatz mehr, geschweige denn eine ganze lange Novelle verfassen. Ohne Spazieren würde ich ja gar keine Beobachtungen und gar keine Studien machen können.
Auf einem schönen und weitschweifigen Spaziergang fallen mir tausend brauchbare nützliche Gedanken ein. Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren. Spazieren ist für mich nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich. Ein Spaziergang fördert mich beruflich und macht mir zugleich auch noch persönlich Spaß und Freude; er erquickt und tröstet und freut mich, ist mir ein Genuß und hat gleichzeitig die Eigenschaft, dass er mich zu weiterem Schaffen reizt und anspornt.
Henry David Thoreau
Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur erhalte, indem ich jeden Tag wenigstens vier, gewöhnlich sogar mehr Stunden damit verbringe, durch die Wälder und über Hügel und Felder zu streifen, absolut frei von allen weltlichen Verpflichtungen. (...) Wenn ich manchmal daran denke, dass die Handwerker und Ladenbesitzer nicht nur den ganzen Vormittag, sondern auch die Nachmittage in ihren Geschäften verbringen, viele von ihnen auch noch im Schneidersitz – als wären Beine nicht zum Stehen oder Gehen gemacht, sondern um darauf zu sitzen –, dann finde ich, sie verdienen durchaus Anerkennung dafür, dass sie nicht alle längst Selbstmord begangen haben.
Doch das Gehen, von dem ich spreche, hat keine Ähnlichkeit mit der Durchführung sogenannter Übungen wie das Schwingen von Hanteln oder Stühlen, so wie die Kranken zur vorgeschriebenen Stunde Medizin einnehmen, es ist vielmehr selbst die wichtigste Aufgabe und das wahre Abenteuer des Tages. Wer Bewegung braucht, mache sich auf die Suche nach den Quellen des Lebens. Man stelle sich nur vor, wie ein Mann seiner Gesundheit zuliebe Hanteln schwingt, während auf weit entfernter Flur diese Quellen sprudeln, die er nicht aufsucht!
Adalbert Stifter
Wir gingen auf dem grauen Rasen zwischen den Stämmen weiter, immer von einem Stamme zum andern. Die Sohlen meiner Stiefel waren von dem kurzen Grase schon so glatt geworden, daß ich kaum einen Schritt mehr zu tun vermochte und beim Gehen nach allen Richtungen ausglitt. Da der Großvater diesen Zustand bemerkt hatte, sagte er: "Du mußt mit den Füßen nicht so schleifen; auf diesem Grase muß man den Tritt gleich hinstellen, daß er gilt, sonst bohrt man die Sohlen glatt und es ist kein sicherer Halt möglich. Siehst du, alles muß man lernen, selbst das Gehen."
Friedrich Nietzsche
Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht all zu fest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.
Gehen – mehr als nur ein Fortkommen
Gehen, spazieren, flanieren, meinetwegen auch wandern, für viele Autoren ist die Fortbewegung per Pedes mehr als nur ein Fortkommen. Sie ist Lebensquell und Motor des Geistes in einem. Seit ihm vor vielen Jahren einmal der österreichische Schriftsteller Peter Handke auf einer einsamen fränkischen Hochebene entgegenlief, ist für den Zeit für Bayern-Autor Horst Konietzny das alte Motiv des wandernden Denkers mit den sanft schwingenden fränkischen Landschaften verbunden.
Nun ist Horst Konietzny mit frei zirkulierenden Gedanken auf der fränkischen Hochebene unterwegs gewesen. Zusammen mit einigen fränkischen Wegbegleitern versuchte er herauszufinden, wie es mit dem Gehen so läuft.
"In meinem eigenen Dialekt würde ich nie von Gehen sprechen. Als Franke sage ich laafen. Ich laaf a weng rum und schau mer die Leut oh. Ich hock mi auf er Benk und denk nimmer droh. So fing einmal ein Blues von mir an. Gehen ist im fränkischen eigentlich synonym mit laafen. Es ist eine Fortbewegungsart, die mir nach wie vor großen Spaß macht. Ich würde nie joggen. Das wäre mir viel zu schnell. Ich möchte spazieren gehen. Da kann ich stehen bleiben. Und da kann ich auch links und rechts mal was anschauen. Das ist eine sehr meditative Form der Fortbewegung im Gegensatz zu diesem Joggen. Ich sehe das ja immer wenn so Jogger an mir vorbei flitzen, meistens sind sie noch dazu verkabelt. Und die nehmen eigentlich nichts wahr."
Fitzgerald Kusz
So anschaulich macht es nur der Dialekt. Man kann es sich plastisch vorstellen, wie der Nürnberger Dichter Fitzgerald Kusz durch die Straßen laaft und schaut.
"Das Schöne beim Spazierengehen ist, dass die Pforten der Wahrnehmung geöffnet werden. Gehen war für mich auch beim Schreiben immer lebensnotwendig. Wenn ich zum Beispiel ein Stück geschrieben habe und ich wusste nimmer wie’s weitergeht und bin bei einer Szene hängen geblieben, dann habe ich mich aufgemacht zu einem langen Spaziergang. Erst mal um den großen Dutzendteich, dann um den Silbersee herum und ich weiß nicht, nach der Dreiviertelstunde Stunde wusst’ ich auf einmal wie die Szene weitergehen muss. Irgendwie ist die Sauerstoffanreicherung auch für die Kreativität sehr förderlich."
Fitzgerald Kusz, Dichter
Zeit für Bayern-Autor Horst Konietzny hat die Probe aufs Exempel gemacht. Er wollte die Wirkung spüren, die das sanfte Auf und Ab der fränkischen Flure in Verbindung mit kräftiger Luftzufuhr hat. Begleitet von Klaus Treuheit, einem in Erlangen ansässigen Pianisten, mit einem ausgeprägten Faible fürs Freie. Mit ihm wanderte er über eine einsame, windumtoste Hochfläche nördlich von Erlangen, irgendwo zwischen Atzelsberg, Marloffstein und Spardorf.
"So in den Himmel schauen, du siehst ja nichts. Also keine Perspektive, kein Blick ins Land, sondern ins Leere in den Himmel. Wir sehen hier bis nach Cadolzburg, die Nürnberger Burg, der Fernsehturm. Hier die Linie ist ja auch wie auf einem alten Dürer Bild. Du siehst den Kirchturm, eine alte Befestigung und davor hast du nur alte Obstbäume. Und hier haste ne Kuhweide. Hinten der Hetzles. Man hat hier auf dem Hochplateau den Eindruck, man ist von Mittelgebirgsbergen umgeben. Wir halten hier auf Spardorf zu, da sehen wir ein paar schöne Hüttchen, befestigte Häuser wo die Bauern halt ihre Werkzeuge unterstellen. Da wohnt niemand. Ist sehr schön, seh' ich einfach gerne und zwar rund ums Jahr."
Klaus Treuheit
Was macht die Landschaft zur Landschaft?
Was sieht man, wenn man Landschaft sieht? Was macht die Landschaft zur Landschaft und nicht zu einem zusammenhangslosen Konglomerat von Autos, Büschen und Häusern? Der Stadtplaner Lucius Burckhard beschäftigte sich sein ganzes berufliches Leben damit, wie urbaner Raum und Landschaft wahrgenommen werden. Er lehrte ab dem Jahre 1973 als Professor für Sozialökonomie an der Gesamthochschule Kassel, wo er auch mit einem eigenen Schwerpunkt auf der diesjährigen Documenta gewürdigt wird. Eine seiner Kernthesen betraf die Landschaft als Konstrukt. Er betonte immer wieder:
"Dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter. In der Umwelt eine Landschaft zu erblicken, ist eine schöpferische Tat unseres Gehirns, hervorgebracht durch bestimmte Ausklammerungen und Filterungen, aber auch integrativer Tätigkeiten des Zusammensehens, die das Ergebnis einer vorausgegangenen Erziehung sind."
Lucius Burckhardt, Stadtplaner
Die Magie wundersamer Dinge am Wegesrand erspüren
Die Erziehung spielt sicherlich eine wichtige Rolle für die Fähigkeit, sich Landschaft lustvoll zu erschließen. Da spielen Kindheiten eine Rolle, die nicht so sehr davon geprägt sind über glatte Displayoberflächen zu wischen, sondern davon, die Magie wundersamer Dinge zu erspüren, die sich an den Wegesrändern finden lassen. Wege, die man erst an Großvaters Hand erkundete, um sie später bei wilden Spielen kreuz und quer durch Wald und Flur zu verlassen. Spaziergangsforscher allerdings stellen bekümmert fest, dass die jungen Leute heutzutage immer weniger wandern. Einfach so aus purer Lust. Wobei das mit der Bewegungslust in Franken eh schon immer etwas zweckdienlicher war. Zumindest in der Kindheit von Fitzgerald Kusz.
"Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, da waren die Spaziergänge natürlich immer sehr reduziert. Zum Grab von der Großmutter, Friedhofsbesuch und ähnliches mehr, oder man ist im Wald gegangen und das war dann natürlich meistens auch zweckgerichtet. Im Wald hat man dann Schwarzbeeren gerissen. Blaubeeren heißen ja im Fränkischen Schwarzbeeren. Oder man hat früher Butzelküh gesammelt, also Kiefernsamen. Der Wald war immer etwas, was nicht reines Naherholungsgebiet war. Aus dem Wald haben wir was geholt. So bin ich aufgewachsen. Das richtige ziellose Herumlaufen hab’ ich erst in der Großstadt kennen gelernt. Natürlich in Nürnberg, aber noch mehr in Berlin. Mein Vater war Berliner und wir waren immer im Sommer zwei bis drei Wochen in Berlin bei Verwandten. In Berlin gibt's auch ein schönes Wort für laafen nämlich latschen. Sind wir natürlich stundenlang rumgelatscht und ich kann mich heute noch an eine Straße erinnern, Ich glaub in Berlin Dahlem, Podbielskiallee. Ich bin dort als Dorfkind verzweifelt, weil die Straße nie aufgehört hat und mein Vater musste mich dann irgendwann mal huckepack nehmen. Man hat ja an jeder Straßenecke was gesehen. Und dieses Latschen durch die Stadt, das ist ja flanieren. Und flanieren ist für mich die schönste Form des Spazierengehens. Mir gefallen Städte und wie man diese Städte quasi erwandert. Ich habe ein Jahr in England gelebt und ich war in London drunten in dieser wunderbaren Zeit 1967/68 und da war sehr viel los, Konzerte im Hyde Park und da ist man endlos lang gelaufen vor allem wenn wieder mal die U-Bahn gestreikt hat. Also das Laufen hat mich immer fasziniert das mach ich auch in Nürnberg gerne."
Fitzgerald Kusz, Dichter
Effizienz und Selbstoptimierung – statt Muße
Es ist keine große und neue Erkenntnis, festzustellen, dass uns heutzutage meist die Muße fehlt, absichtslos herumzustreifen. Effizienzgetrimmt und selbstoptimierungsfreudig packen wir alle Bewegungslust eher in den Halbmarathon am Wochenende oder in die Alpenüberquerung in einem Rutsch, als ins phantasiefördernde einfache Gehen. Für die Power-Erbauung geht’s dann ab zur Pilgertour nach Santiago di Compostela. Ob uns dabei etwas abgeht?
Schritt für Schritt ins Unbekannte
Kein Schritt ist wie der andere. Probieren Sie es aus. Schritt für Schritt ins Unbekannte um die Ecke. Das Abenteuer beginnt hinter der nächsten Mülltonne. Entdecken Sie das Schnurren der ersten Weidekätzchen im Morgendunst, verlaufen Sie sich in den Mysterien des Alltäglichen, gehen Sie in sich, aus sich heraus, über sich hinweg, aber gehen Sie! Und: lassen Sie das Auto stehen. Denn wie sagte es Peter Handke so schön, in all den Fahrzeugen gibt es keinen Aufbruch.
"In allen den Fahrzeugen gibt es keinen Aufbruch, keine Ortsveränderung, kein Gefühl einer Ankunft. Im Fahren, auch wenn ich nicht selber lenkte, kam ich nie so recht mit. Im Fahren war das, was mich ausmacht, nie dabei. Im Fahren werde ich beschränkt, auf eine Rolle, die mir widerspricht: im Auto, eine Hinterglasfigur, auf dem Rad die eines Lenkstangehalters und Pedaltreters. Gehen. Die Erde treten. Freihändig bleiben. Ganz aus eigenem schaukeln. Fahren und gefahren werden nur in der Not. An den Orten, zu denen ich gefahren wurde, bin ich nie gewesen. Nur durch das Gehen, lässt sich etwas davon wiederholen."
Peter Handke