Gottesdienst im Wirtshaus Beichte zwischen Zapfhahn und Schanktisch
Kirchen bleiben heute oft leer. In der Nachkriegszeit war das anders. Damals wurden sogar Wirtshäuser als Ersatzkirchen genutzt. Wo am Abend getanzt, geraucht und geflirtet wurde, feierten die Gläubigen tags darauf ihren Gottesdienst.
Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: zerstörte Städte, von Bomben beschädigte Privathäuser und öffentliche Gebäude. Egal ob Trümmerfrauen, Kriegsheimkehrer, Versehrte oder Heimatvertriebene: Alle versuchten verzweifelt, irgendwie über die Runden zu kommen. Auch viele Kirchen waren zerstört oder stark beschädigt worden. Wenn überhaupt, standen in vielen Orten nur Gebäude einer Konfession zur Verfügung, sagt Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat "Kulturarbeit und Heimatpflege" des Bezirks Unterfranken.
"In den 50er und zum Teil auch noch in den 60er Jahren gab es einen Mangel an Gotteshäusern. Zum einen gab es eine riesige Umschichtung in den Konfessionen. Durch die große Zahl von Flüchtlingen, die nach Bayern kamen, waren plötzlich Menschen evangelischen Glaubens in überwiegend katholischen Gebieten und in überwiegend evangelischen Gebieten plötzlich Flüchtlinge katholischen Glaubens. Wo gingen die hin? Da gab es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen konnte man in einem Akt früher Ökumene die Kirchen der anderen Gemeinde nutzen – das war natürlich die beste Lösung. Dann nutzte man oft Schulen. Und dann gab's natürlich den Tanzsaal im Wirtshaus."
Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat 'Kulturarbeit und Heimatpflege' des Bezirks Unterfranken
Ob die improvisierten Kirchenräume vor dem liturgischen Gebrauch geweiht wurden, ist allerdings nicht bekannt.
"Da war am Abend oft noch Tanz. Dann wurde gelüftet. Da hing wahrscheinlich dann noch der Rauch im Saal. Und dann hat man einfach zwei, drei Tische zu einem Altar umgebaut, hat Stühle in Reihen gestellt. Die Leute kamen dann festlich gekleidet und das hat dann alles keine Rolle gespielt. Wichtiger war: Wir haben einen Raum, wo wir Gottesdienst feiern können."
Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat 'Kulturarbeit und Heimatpflege' des Bezirks Unterfranken
"Beichte zwischen Zapfhahn und Aschenbecher"
Birgit Speckle hat sich intensiv mit der Geschichte von Wirtshäusern in Unterfranken beschäftigt. Dabei stieß sie auch auf die etwas kuriose Nutzung der Kneipenräume als Ersatzkirchen. Auf alten Fotos aus dieser Zeit, die sie in einem Buch über den Priesterberuf fand, war etwa eine improvisierte Sakristei zu sehen. Für die Würzburger Heimatforscherin ein Schlüsselerlebnis und gleichzeitig ein Ansporn, der Sache weiter auf den Grund zu gehen.
"Ich habe da geblättert und mir dann gedacht, was ist das: Da sitzt ein Priester am Schanktresen, aufgestützt vor einem Mädchen, das ein Gesangbuch hält, und hält ganz offensichtlich zwischen Zapfhahn und Aschenbecher die Beichte."
Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat 'Kulturarbeit und Heimatpflege' des Bezirks Unterfranken
Es gibt nur noch wenige Zeitzeugen
Zeitzeugen, die diese ungewöhnlichen Heiligen Messen selber mitgefeiert haben und davon erzählen können, gibt es mittlerweile nicht mehr viele. Doch in der unterfränkischen Gemeinde Hasloch bei Wertheim leben noch drei Frauen, die damals bei einigen Gottesdiensten in umfunktionierten Gasthaussälen dabei waren. Beispielsweise Lina Schueler. Die heute 81-Jährige erinnert sich noch gut an die Zeit, als sie im Alter von 18 Jahren ihren Eltern hinter der Theke helfen musste. Sie betrieben das Gasthaus "Zum Goldenen Stern" – direkt gegenüber der evangelischen Kirche.
"Anfang der 50er Jahre haben wir dann den Saal zur Verfügung gestellt. Weil ja keine katholische Kirche da war. Wir waren evangelisch, weil Hasloch ja früher rein evangelisch war."
Lina Schueler, Zeitzeugin
Keine Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten
Der Tanzsaal wurde den Angehörigen der anderen Glaubensrichtung ohne viel Gerede zur Verfügung gestellt – zum Nulltarif. Zwischen den Gläubigen der beiden großen christlichen Konfessionen gab es keinerlei Spannungen, obwohl das in den 50er Jahren keine Selbstverständlichkeit war.
Wirtshaus-Gottesdienste auch in Oberfranken
Wie viele Wirtshäuser in Bayern von den jeweiligen Konfessionen sakral genutzt wurden, weiß heute niemand mehr. Nicht nur aus Unterfranken sind derartige Ersatzkirchen bekannt, sondern auch aus dem Erzbistum Bamberg. So hielt allein die katholische Pfarrei Coburg die Heilige Messe in Tanzsälen oder evangelischen Kirchen von über 20 Orten ab. 1948 etwa in Grub am Forst: im Saal des Gasthauses "Goldene Rose".
Heute werden Kirchen mangels Nachfrage geschlossen
In der Kirche St. Joseph im Augsburger Stadtteil Oberhausen ist nun das Bistumsarchiv der Diözese Augsburg untergebracht.
Und heute? Wie sieht es da hierzulande mit dem Glauben aus? Während früher Tanzsäle wegen improvisierter Gottesdienste überfüllt waren, werden heute Kirchen mangels Nachfrage geschlossen und einer weltlichen Nutzung übergeben. Zum Beispiel im Augsburger Stadtteil Oberhausen, einem eher multikulturell geprägten Viertel mit vielen Muslimen. Wo einst Weihrauch durch die katholische St. Joseph Kirche zog, schützen heute über 200 rot-schwarze Stickstoffflaschen das Gebäude vor einem möglichen Brand. Denn seit Kurzem befindet sich das Archiv des Bistums Augsburg hier. Es ist nicht die erste profanierte Kirche im Bistum Augsburg. In Günzburg ereilte die Schlosskirche vor ein paar Jahren dasselbe Schicksal. Nun werden dort von einem Freundeskreis Konzerte oder Krippenausstellungen in der Adventszeit organisiert.
Aus Kirchen werden Ausstellungsräume und Hotels
Nicht nur im Augsburger Bistum mussten Kirchen aus pragmatischen Gründen in profane Räume umgewandelt werden, auch in anderen Teilen Bayerns war dies der Fall. In der Diözese Eichstätt, im mittelfränkischen Schwabach, wurde die Kirche "Zur Göttlichen Vorsehung" 2015 wegen rückläufiger Besucherzahlen entweiht. Ein Jahr zuvor war noch das 60-jährige Bestehen des Gotteshauses gefeiert worden. Und in Passau nutzt der dortige Kunstverein die St. Anna Kapelle bereits seit den 1960er Jahren als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum. Im benachbarten Schärding, in Österreich, hat man eine Kirche sogar kurzerhand in ein Hotel verwandelt.
Letztlich ist die Nutzung von Kirchen also auch ein Spiegel unserer Gesellschaft, egal ob die Räume nun für Diskotheken, Hotels, Archive oder eben – wie ursprünglich gedacht – für Gottesdienste verwendet werden. Ein Zeichen für die jeweilige Zeit mit ihren Nöten und Moden. Die, wie die Nutzung von Wirtshäusern als Ersatzkirchen zeigt, ganz schnell auch wieder passé sein können.