Harald Grill erinnert sich Weihnachten zwischen Kinderstube und Seniorenheim
Alle Jahre wieder inszenieren wir die Weihnachtstage zu unserem wichtigsten Fest. Wie war das früher, war da wirklich alles anders? Oder haben wir alles nur anders gesehen? Schriftsteller Harald Grill erinnert sich.
Es ist wieder einmal Weihnachten. Ich sitze am Fenster. Der Wind bewegt die Äste der Bäume. Keine Spur von "Weiße Weihnacht". Auf einmal meine ich die Weihnachtstage aus den vergangenen Jahrzehnten vor mir zu sehen, aufgefädelt an einer Schnur, eine lange Kette von Erinnerungen. Oder als Weihnachtskalender mit sechzig Jahres-Fenstern. Ich werde nicht alle öffnen können. Es sind Jahre dabei, an die kann ich mich nicht mehr erinnern, Nebel hinter den Scheiben, blinde Stellen, Erinnerungslücken. Dazwischen die Wiederholungen der Wiederholungen. Wann war eigentlich das erste Weihnachtsfest, das ich bewusst erlebt habe?
Damals kann sich noch niemand vorstellen, dass es einmal so etwas wie ein Internet geben wird. Trotzdem gibt es bereits das Kaufhaus in der Wohnung – man muss nicht fort zum Einkaufen. Der Postbote bringt einen Umschlag mit einem bunten Buch. Das ist der neue Neckermannkatalog! Der ist genauso ein Schaufensterbuch wie der Quellekatalog: Dort drin gibt es mindestens so viele Spielsachen wie in der Stadt. Die bunte Welt der Wunschträume. So bekommen die Wünsche ein Gesicht. Mutti schaust du mit mir den Katalog an? Also, wenn die Mutti Zeit hat, setzt sie sich mit mir an den Tisch. Ich deute auf ein Bild im Katalog und sie liest mir vor, was daneben steht.
Mutti: (liest stockend aus dem Katalog vor)
Tisch-Fußballspiel: 20 rote und blaue auswechselbare Spieler und zwei bewegliche Torwarte, Plastik-Tore mit Toranzeige. Sämtliche Spieler mit Gummifederung, wodurch einwandfreies Schießen und lebhafter Spielverlauf gewährleistet werden.
Am Montag in der Früh hängt auf einmal ein Adventskranz im Treppenhaus von meiner Schule, ein riesengroßer mit riesengroßen Kerzen. Schade, keine einzige brennt. Dafür riecht es nach Tannenzweigen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer den aufgehängt hat. So hoch oben! Im Klassenzimmer hat der Lehrer auch einen Adventskranz aufgestellt. Auf dem Pult. Und er zündet eine Kerze an und wir beten.
Alles hat seine Zeit. In der Kindheit sind die Tage und Wochen vor Weihnachten geprägt vom Warten. Nie mehr wird sich die Zeit so dehnen und strecken. Sie will einfach nicht vergehen. Die Langeweile macht sich breit wie ein riesiger Pfannenkuchen. Und dann die Spannung. Letztes Jahr war das Tisch-Fußballspiel nicht unter den Geschenken. Vielleicht klappt es heuer! Es beginnt richtiger Warte-Countdown.
Ich kann mir nichts Rechtes vorstellen unter der Ankunft des Herrn. Ich weiß nur so viel: Der Herr ist eigentlich ein Baby, das in einer Krippe liegt. Bei uns daheim hat das Jesulein Konkurrenz bekommen. Weihnachten hat sich verändert. Wir sind zu viert. Wir haben jetzt selber ein Baby, aber ohne Krippe, meine kleine Schwester, liegt in einem Kinderbett.
Der Krieg ist bei uns in Regensburg im Kasernenviertel noch überall sichtbar, noch so nah da. Im Sommer bauen wir Erdbunker und betteln den Amerikanern Kaugummis ab, wenn sie mit den Panzern durch die Straße rattern: Tschewing Gum! Tschewing Gum! Im Winter kaufen wir in der Schule für ein Zehnerl rote oder weiße Kriegsgräber-Kerzen.
Pass uck uff, geh ma nich so in die Lusche! Hoste mich verstonden?
So spricht meine schlesische Großmutter mit mir. Freilich hab ich sie verstanden. Ich soll aufpassen und nicht in den Dreck steigen. Trotzdem lass ich Steine in den großen Drecklacken-See an der Baustelle platschen. Dann spring ich von einem zum andern. Und wenn ich zurück schaue, seh ich meine Fußspuren im Dreck: In der Lusche! Und von oben, von vorn, von der Seite, überall quatschelt mir das Wasser in die Halbschuhe.
Mutti:
Morgen gehen wir zusammen in die Stadt. Du brauchst gefütterte Winterstiefel!
Ich:
Und wenn ich brav bin und im Geschäft meine Füße zum Schuheanprobieren hergeb, wenn ich sie in den dunklen Kasten steck, damit die Verkäuferin sehen kann, ob die Schuhe zu klein sind oder zu groß – die Röntgenstrahlen waren vielleicht früher nicht so gefährlich wie heute. Jedes bessere Schuhgeschäft hatte so einen Röntgenapparat – also, wenn ich alles brav mitmache, was sie von mir verlangen, dann krieg ich hinterher ein grünes Lurchi-Heft. Schuhe auch, aber die schau ich daheim gar nicht mehr an, da interessieren mich nur noch die Bilder im Lurchi-Heft.
Am Heiligen Abend mach ich nachmittags mit meinem Vati und meiner kleinen Schwester einen Spaziergang durchs Kasernenviertel, damit das Christkind daheim in Ruhe alles herrichten kann. Manchmal denk ich mir, der Vati wär gern wieder Soldat, weil er genauso neugierig zwischen den Eisenstäben des Zauns in den Kasernenhof zu den Panzern schaut, wie ich. Aber dann schimpft er auf einmal auf alle Soldaten und auf alle Pistolen und auf alle Panzer von der Welt. Er kann Waffen nicht leiden, weil sie ihm damit das Bein weggeschossen haben.
Ich find Panzer pfundig. Und Pistolen erst recht. Aber das darf ich nicht sagen. Als wir heimkommen gibt es gebratene Weißwürste und Sauerkraut und eine Semmel und dann bimmelt läutet das Christkind und die Wohnzimmertür steht offen. Wenn wir reingehen, ist das wie ein Wunder. Es riecht nach Kerzenwachs und alles leuchtet und glitzert. In der Ecke steht der Christbaum, mit Lametta behangen, mit bunten Kugeln und Süßigkeiten. Auch brennende Kerzen sind aufgesteckt. Auf dem Klappbett steht eine einzelne Kerze mit einer schwarzen Kriegsgräber-Manschette vor dem Foto vom Onkel Siegfried. Der liegt irgendwo in Russland in der kalten Erde. Und ans Fenster hat die Mutti auch zwei Kerzen gestellt.
Mutti:
Die sind für die armen Leute in der Ostzone!
Das Jesulein ist ein Baby und kann ja wohl kaum das Christkind sein. Ob das Christkind wirklich ein Kind ist? Ob es sich manchmal schmutzig macht? Es müsste eigentlich eine Art Engel sein und Flügel haben, damit es die Wunschzettel überall abholen kann. Flügel sind was Praktisches. Beim Anziehen stören sie aber schon! Wie soll man da einen Anorak drüberziehen?
Ein paar Tage vor Weihnachten dürfen wir auf einmal nicht mehr ins Wohnzimmer. Meine Schwester und ich schauen durchs Schlüsselloch, aber das Christkind hat ein Tuch davor gehängt. Wir wollen die Tür einen Spalt weit öffnen. Aber die ist zugesperrt. Das Christkind ist gemein.
Die Eltern fahren mit der Straßenbahn in die Stadt. Vor Weihnachten haben die Geschäfte am Samstag bis um sechs Uhr abends offen und nicht nur bis zwei, wie sonst. Wir bleiben allein daheim und schauen uns das Fotoalbum an. Da ist der Christbaum vom letzten Jahr zu sehen und der vom vorletzten und der vom vorvorletzten auch. Wenn der Vati und die Mutti da sind, dürfen wir das Album nicht in die Hand nehmen. Da heißt es: Ihr habt pappige Finger, ihr macht es schmutzig, ihr zerknittert das Papier, tatata, mähmähmäh und jajaja. Auf einem Foto ist ja das Christkind drauf! Pausbackig! Ganz glänzende Augen hat es! Am Abend erzähle ich es der Mutti.
Mutti:
Du sollst doch das Album nicht...
Ich:
Aber dann holt sie es und will das Christkind auch anschauen. Ich zeig es ihr. Sie muss lachen und ich will wissen warum.
Mutti:
Das Christkind bin ich, da war ich so alt wie du jetzt! In der dritten Klasse in Breslau!
Mein Onkel Wolfgang hat als erster von der Verwandtschaft einen Fernseher. Bei den Nachrichten redet er immer mit. Ja – mit dem Russen ist nicht zu spaßen. Das sagen alle. Ich hab immer gemeint, der Russe, das ist ein einziger, ein ganz starker, großer Kerl mit einer Pelzmütze. Da hab ich mich getäuscht. An einem Sonntagnachmittag hab ich mir nämlich mit den Großen eine neue Folge von "Soweit die Füße tragen" anschauen dürfen. In dem Film hab ich gesehen, dass es in echt ganz viele Russen sind, vor denen ich Angst haben muss. Und sie tarnen sich als ganz normale Menschen. Sie jagen einen deutschen Soldaten, der ihnen aus dem Lager abgehauen ist. Der geht zu Fuß aus Sibirien heim, das ist zwar nicht so weit wie vom Mond bis zur Erde, aber trotzdem dauert es ganz schön lang. Und er weiß nicht, wo er gehen muss, weil er sich ja in Sibirien nicht auskennt.
Heut Nacht hat es geschneit. Alles um mich herum ist auf einmal Sibirien. Wenn ich von der Schule heimgeh, bin ich ein deutscher Soldat, der den Russen aus der Pestalozzischule abgehauen ist. Ich muss mich nach Deutschland in die Admiral-Hipper-Straße durchkämpfen. Und alles um mich herum wird ein Film, der echt wahr ist. Ich geh jeden Tag in der Früh in die Schule in russische Gefangenschaft und hau jeden Tag nach der Schule ab. Da musst du große Umwege machen, damit sie dich nicht erwischen. Ich kämpfe mich durch Schneewehen und Tauschnee-Seen, wate durch den Schlamm. Aber das macht ja nichts, die Familie wird froh sein, wenn ich pünktlich zu Weihnachten von der Gefangenschaft heimkomme.
Der Pfarrer behauptet: Der liebe Gott kann alles sehen. Komisch, denk ich, der sieht alles, was ich mach. Aber ich seh nicht, was er macht. Vielleicht sieht er uns bloß in seinem Fernseher. Wir haben jetzt auch einen Fernsehapparat. Die Amerikaner kommen jetzt bis in unser Wohnzimmer. Aber nicht mit den Panzern und den Soldaten. Amerika bekommt das Gesicht von ganz normalen Leuten, die durch die Film-Geschichten laufen und durch die Fernsehnachrichten. Und vorn dran ist immer der Präsident, der John F. Kennedy.
Vom John F. Kennedy ist ein Bild im Religionsbuch, auf dem betet er und schaut aus wie ein Heiliger. Drunter steht, dass er der erste katholische Präsident von Amerika ist. 1963 im November, kurz vor der Adventszeit, erschießt jemand den Kennedy. Den ganzen Abend kommt traurige Musik im Fernsehen. Alle sind traurig, wir auch. Aber auf Weihnachten freuen wir uns trotzdem.
Am Christbaum stecken heuer echte elektrische Kerzen, weil unsere Wohnung so eng ist und der Vorhang leicht anbrennen kann. Wir gehören zu den ersten in der Admiral-Hipper-Straße, die elektrische Kerzen haben. Mit dem Singen ist diesmal das Radio mit den Regensburger Domspatzen dran. Und danach läuten im Radio alle Glocken von allen Domen auf der ganzen Welt. Sogar der Kölner Dom ist dabei. Ungeduldig warten wir auf den Regensburger Dom. Wenn wir dem seine Glocken hören, freuen wir uns am meisten. Ich erkenne ihn nicht gleich – der Vati schon!
Das teuerste Geschenk, das ich bis jetzt in meinem Leben bekommen habe: ein Tonbandgerät mit Mikrofon. Jetzt kann ich alles aufnehmen, was meine Schwester, meine Mutti und mein Vati sagen.
Es ist eine echte Überraschung. Ich habe es mir zwar gewünscht, aber nicht geglaubt, dass ich es krieg.
Unser Nachbar, der Herr Nafz, arbeitet bei der AEG. Und über den kriegen wir Prozente. Das ist ein Zauberwort, wenn man irgendwo was billiger bekommen will, braucht man Prozente.
Gleich nach den Feiertagen kommen unsere Schlesier zu Besuch. In unserer Zweizimmerwohnung können leicht zwölf Leute übernachten. Auch wenn es eng wird, der Tante Friedl macht das rein gar nichts aus. Sie meint nur: Ooch, auf der Flucht ham was viel enger gehabt.
Wenn der Onkel August kommt und die Tante Friedel, wenn der Onkel Wolfgang kommt und die Tante Ilse, wenn die Tante Lenchen kommt und der Onkel Julius, wenn die alle kommen, dann kommt auch meine schlesische Oma und macht Kartuffelsalat oder Mouh-Kleijßel oder Häckele. Zum Kartuffelsalat gibt es einen großen Tupp voll mit Wienerwürstln.
Wenn die Oma Mouh-Kleijßel macht, dann krempelt sie die Ärmel hoch und schneidet Semmeln und weicht sie ein und gibt Mohn dazu und was weiß ich noch alles und in einer großen Schüssel rührt sie alles durcheinander. Bei Häckele macht sie es genauso, aber statt Mohn schneidet sie Heringe in die Pampe.
Kartuffelsalat mag ich schon und Würstln auch. Mouh-Kleijßel und Häckele schmecken mir gar nicht. Und dass ich immer ins Bett muss, wenn es lustig wird, das schmeckt mir auch nicht. Dann essen sie kleine Salzbrezen und trinken Himmlisches Moseltröpfchen und Kellergeister und Danziger Goldwasser, in dem schwimmen winzige Goldflinserln.
Dann steigen wir heimlich aus dem Bett und linsen durch die Heizklappe vom Kachelofen. Manchmal sind sie auf einmal nicht mehr lustig und erzählen Geschichten von Breslau und von der Flucht, da haben sie in fremden Mülleimern Essen gesucht und Kartoffelschalen und Fischgräten gegessen.
Das erzählen sie mir auch immer, wenn ich sage, ich mag kein Häckele, und ich soll froh sein, dass keine Flucht mehr ist, weil auf der Flucht, da wären sie froh gewesen, wenn sie Häckele gehabt hätten und erst recht Mouh-Kleijßel.
Ich bin schon froh, dass keine Flucht mehr ist. Mouh-Kleijßel und Häckele mag ich trotzdem nicht. Ich kenn auch keine anderen Kinder, die Mouh-Kleijßel und Häckele mögen.
Der Onkel Wolfgang stärkt mir ab und zu den Rücken und sagt: "Kann ja sein, dass der Amerikaner die Bomben bloß deswegen geschmissen hat, weil er auch keine Mouh-Kleijßel und Häckele mag."
Was ist passiert in der Welt? Es interessiert mich nur am Rande. Wir sitzen nur noch zu dritt unter dem Christbaum. Alles wird überschattet vom Tod meines Vaters – das war Anfang Juli. 14 Tage später bin ich 15 geworden. Mir ist nicht nach Weihnachten. Mein Weihnachtslied heißt heuer Down Town gesungen wird es von Petula Clark. Ich habe es auf Radio Luxemburg auf Kurzwelle gehört und mit allem Rauschen und hundert Knacksern auf Tonband aufgenommen.
Als ich in die Stadt gehe, um nach Geschenken für meine Mutter und meine Schwester zu suchen, habe ich ständig dieses Lied im Kopf. Ein sentimentales Lied. Nein, ans Herz geht es mir nicht. Und wenn, dann würd ich’s nicht zugeben. Ein Ohrwurm, der ins Hirn kriecht und den Körper erobert, der wie ein Teig im Bauch aufgeht und zurück ins Hirn steigen will und den Ausgang nicht findet.
Weihnachten riecht nach Tannenzweigen. Weihnachten riecht nach Kerzenwachs. Weihnachten riecht nach Gänsebraten. Weihnachten riecht wie neue Bücher, riecht ganz anders als die Bücher aus der Bücherei. Meine Geschenke. Lesestoff für die Feiertage: "Flucht zu den Eishai-Jägern: Abenteuer in Grönland!", "Im Dschungel abgestürzt", "Reise zum Mittelpunkt der Erde" – ja, ich nehme mir vor demnächst auch eine Reise dorthin zu unternehmen. Warum sonst lese ich überhaupt? Aus Zeitvertreib?
Nein, Bücher zeigen einem Wege, sogar Auswege, und man kann sich so wunderbar in ihnen verlieren. Das wichtigste in einem Buch ist das, was ich mitnehmen und behalten kann. Ich hab ein Buch über den Alexander von Humboldt bekommen. Das ist ein Naturforscher, der durch die ganze Welt gereist ist. Der hat einmal gesagt, dass er so viel Welt wie möglich in die eigene Person verwandeln will. Das gefällt mir. Hört sich gut an.
Ich mache mich auf den Weg. Aber ich gehe nicht mit den Sternsingern. Ich mache mich auf die Suche nach Menschen, mit denen man reden kann. Und jedes Jahr an Weihnachten der Umweg über den Friedhof zum Grab des Vaters und dann erst weiter zum Christkindlmarkt hinein in die Weihnachtslieder- und Bratwurstsemmel-Welt.
Weihnachten ist zwar immer im Winter, aber in Regensburg gibt es selten weiße Weihnachten. Aber manchmal gibt es sie doch. Und wenn Schnee fällt, wird es nachts still im Kasernenviertel, so still wie sonst nie. So still, dass ich das Gewurl der Engel zu spüren glaube, ja, ab und zu meine ich sogar ihren Flügelschlag zu hören. Flügelschlagende Stille.
Vierter Adventssonntag. Wiederkehrende Ereignisse – die Weihnachtsgottesdienste, aber auf einmal doch mehr. Das Mädchen, das mir nicht aus dem Kopf gehen will und ich, wir nützen jede Gelegenheit uns zu sehen. Natürlich auch die Christmette. Ich habe zwar mit Weihnachtsliedern nichts mehr am Hut. Aber wenn dann alle Leute zusammen "Tauet Himmel den Gerechten" singen, wird einem doch ganz anders. Und dann noch einmal ganz ganz anders, denn gottseidank ist die Kirche gesteckt voll und wir sitzen dicht aneinander, ich achte nur noch darauf, wann sie einatmet und wann sie ausatmet. Und ich versuche im gleichen Takt mit ihr zu atmen. Und ich überlege, ob sie das bemerkt. Und ich überlege, was sie gerade denkt. Ihr einen Kuss zu geben, hätte ich nie gewagt – und wenn es beim Heimgehen noch so dunkel wäre.
Das Warten hat ein Ende. Die Zeit beginnt zu rennen, sie läuft mir davon. Heuer haben wir geheiratet. Meine Frau und ich sind beide im Regensburger Kasernenviertel aufgewachsen. In einem der Wohnblocks hier haben wir auch unsere erste Wohnung bekommen. Von den Kasernen ist heute nicht mehr viel übrig. Warum? Weil die Welt friedlicher geworden ist? Wohl kaum.
Den Nachmittag verbringen wir in einem Altenheim. Wir unterhalten uns mit den alten Leuten, schenken Punsch aus und verteilen Christstollen. Und danach am Abend sitzen wir in unserem Wohnzimmer vor einem Zwergerl-Christbaum, den wir im Topf gekauft haben. Vielleicht können wir ihn nächstes Jahr noch einmal hernehmen.
Wir überreichen uns unsere Geschenke und dann sitzen wir eine Weile da. Was für ein seltsames Gefühl. Zwei, die sich abgenabelt haben und doch noch keine eigene Familie sind. Bald brechen wir auf, um zwei Straßen weiter meine Mutter, meine Schwester und die Familie meiner Schwiegereltern zu besuchen.
Der Christbaum von 1973 zieht um mit uns aus Regensburg ins Dorf Wald. Jedes Jahr wächst er zehn Zentimeter. Er hat schon zweimal einen größeren Topf bekommen. Jetzt bekommt er ein Zwischenquartier in unserem Garten. Wenn er so weiterwächst, werden wir ihn eines Tages wieder als Christbaum schmücken. Aber dann gibt es kein Zurück mehr.
Im Sommer ist mein Schwiegervater gestorben, gerade als er in Rente gegangen war. Der eine geht, der andere kommt. Seit Herbst haben wir mit unserem Sohn Martin ein eigenes Kind in der Krippe.
Weihnachten 1978. Mein erstes Buch erscheint: "Rundumadum um Weihnachtn". Der Versuch Weihnachten mit Gedichten zu hinterfragen. Auch ein Versuch zur Besinnung zu kommen.
auspacka
reiß des packl aaf
schau eine wos drin is
legs auf d seitn
nimms nächste
reiß des packl aaf
schau eine
legs auf d seitn
nimms nächste
reiß des packl aaf
legs aaf d seitn
nimms nächste
legs aaf d seitn
nimms nächste
nimms nächste
nimms nächste
nimms letzte.
so
etz hamma
den halign omd
aa wieder hinter uns bracht
Jetzt sitzen wir zu viert unterm Christbaum. Im Frühjahr ist Andreas geboren. Die Kinderaugen leuchten mit den Kerzen um die Wette.
Und es sind echte Kerzen. In Regensburg in der Admiral-Hipper-Straße gehörten wir zu den ersten, die elektrische Kerzen hatten. Hier im Dorf sind wir vermutlich die letzten mit echten Kerzen am Baum.
Bis jetzt hab ich meistens zurück gedacht, wenn ich über etwas nachgedacht habe. Das ist wie Rückwärtsgehen. Man geht immer ein bisschen wacklig, schließlich hat man hinten keine Augen. Heute fällt mir auf, dass ich vorwärts denke.
Erster Weihnachtsfeiertag im Wackersdorfer Hüttendorf. Während wir hier im Dreck hocken, wird uns das Wort Heimat immer wichtiger. Wir krallen uns hier fest und leisten Widerstand gegen Politiker, die uns die Polizisten an den Hals hetzen, von denen viele am liebsten selbst mit demonstrieren würden.
Auch meine Mutter und meine Schwiegermutter kommen regelmäßig mit aufs Gelände. Die Abbildungen mit der Flucht der Heiligen Familie bekommen auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Wir wollen nicht in irgendein Ägypten fliehen, aber wir haben uns vorgenommen mindestens 500 Kilometer weit wegzuziehen, wenn die geplante Atomfabrik in Betrieb geht.
Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß sagt, dass wir das Werk des Teufels betreiben. Da hat er wohl etwas verwechselt.
Auch tausende andere Menschen leisten Widerstand in der Oberpfalz. Es bildet sich eine Gemeinde, die sich jahrelang am Rande des Baugeländes versammelt, selbstverständlich auch an Weihnachten.
Die Atomfabrik wird nicht gebaut. Wir können dableiben.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag machen wir einen Familienspaziergang durch den Wald am Dorfrand. Auf einmal sagt unser Martin: Komisch, Papa, überhaupt keine Polizei!
Nun versuchen wir als Eltern für uns und unsere Kinder den Weihnachtstagen etwas Unverwechselbares zu geben. Etwas, was uns bleibt und unserem Leben Sinn gibt. Wir führen den Brauch ein, dass am Heiligen Abend jeder eine Geschichte vorliest, die die anderen noch nicht kennen. Es geht darum, dem Weihnachtsfest jedes Jahr wieder den Glanz zu erhalten. Am schönsten ist es, wenn wir mit unseren Kindern für ein paar Augenblicke selbst wieder zu Kindern werden.
Wofür ich meinen Eltern heute noch sehr dankbar bin: Sie haben ihren Weihnachtsstress nie an uns Kinder weitergegeben. Ich fürchte, wir haben das als Eltern nicht so ganz geschafft. Manchmal scheiterten wir an unserem großen Anspruch an die Gestaltung des Festes. Oder meine Eltern haben es in Wirklichkeit auch nicht geschafft und ich erinnere die Vergangenheit in harmonischen Bildern herbei.
Immerhin habe ich gelernt, dass es nicht genügt eine Tradition zu pflegen wie ein Automat, einfach nach dem Kalender. So eine Tradition will gelebt werden, gemeinsam gelebt werden.
Meine Mutter erzählt, der Krieg war erst zwei Jahre vorbei, da ist sie mit ihrer Schwester Friedl und ein paar anderen Frauen in der Weihnachtswoche um vier Uhr früh von Hengersberg aus nach Deggendorf aufgebrochen, weil es da Pferdefleisch gegeben hat. Eine Wegstrecke von zehn Kilometern.
Und in Deggendorf sind sie stundenlang in der Warteschlange gestanden. Als sie dann dran waren, da sind die Verkäufer auf den umgedrehten leeren Kübeln gesessen. Das Fleisch war aus.
Wenn man glaubt man kann etwas nicht, dann wird man ständig versuchen dieser Vorstellung gerecht zu werden. Was mir peinlich ist, daran will ich nicht denken, das will ich vergessen. Das Singen hat man mir in der Schule ausgetrieben. Hör auf! hör auf!, hat die Lehrerin gerufen, das ist ja furchtbar!
Dann hat sie mir fürs Vorsingen einen Fünfer gegeben. Und die ganze Klasse hat gelacht! Es fiel mir immer schwer Weihnachtslieder zu singen. Erst bei unseren Kindern habe ich mich überwunden.
Die Zeit rauscht vorbei, läuft uns einfach davon. Wir wollen uns an der Vergangenheit festhalten. Wir rennen hinterher. Wir verlieren die Schuh. Langeweile ist zwar kein Fremdwort, aber sie ist zu einem fremden Wort geworden. Die Langeweile an sich ist uns fremd geworden. Dabei ist Langeweile so eine Art Ausatmen. Dazu bleibt keine Zeit mehr, es ist immer was los, wir atmen immerzu ein. Ein Wunder, dass es uns nicht zerreißt.
Wohltuende Gewissheit. Jedes Jahr als Weihnachtsgeschenk die handgestrickten warmen wollenen Socken von meiner Schwiegermutter.
Schenken ist schwieriger geworden. Was man sich wünscht, kauft man sich zwischendrin selbst. Vielleicht nimmt uns der Wohlstand die Fähigkeit zu warten und uns auf etwas zu freuen.
Wehmut tritt ein, weil die Ideen für Wünsche und Geschenke ausgehen, alle haben ja schon alles. Wirklich alles? Geht uns gar nichts mehr ab? Die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, scheinen vorbei zu sein.
Auf einmal sind die Geheimnisse keine Geheimnisse mehr. Vielleicht hat der Weihnachtsstress in den Familien mit dem Ende der Kindheit begonnen. Im Grunde ist es aber auch das alte Lied. Wenn man etwas besonders gut machen will und einfach die Zeit dazu fehlt, dann geht es bestimmt schief.
Es reicht. Ich brauche nicht mehr. Ich brauche nur das, was ich im Rucksack mit mir herumtrage. So bin ich im Sommer aufgebrochen, um zu Fuß vom Nordkap heimzugehen in die Oberpfalz.
Ich scheitere mit dem Versuch das Loslassen zu lernen. Daheim in meinem Arbeitszimmer warten Stöße von Päckchen, die ich von unterwegs nach Hause geschickt habe.
Immerhin an Weihnachten bin ich daheim. Am Heiligen Abend sitzt die Familie beisammen. Alle zusammen in einem Zimmer – im Wohnzimmer neben dem Christbaum.
An Weihnachten war ich immer daheim. Hier kann ich barfuß gehen, auch in der Sprache barfuß gehen und Geschichten erzählen: Wisst ihr noch, als wir versucht haben nachts einen Christbaum aus dem Wald zu holen, das ist fast 20 Jahre her. Bei Licht betrachtet stellte er sich als Besenstiel mit Tannenzweigen heraus und wir zogen am Tag vor dem Heiligen Abend los, um einen schöneren zu kaufen… naja.
Meine Frau und ich übernehmen weihnachtliche Vorbilder: Zum Basteln von Adventsschmuck eignen sich gut die Fruchtstände vom Sommerflieder oder der Nachtkerze und natürlich auch Hagebutten oder Mispeln. Und doch kommt eine Achtsamkeit der Umwelt gegenüber hinzu, die wir in den 1950er-Jahren noch nicht gekannt haben, denn Naturmaterialien lassen sich nach Weihnachten problemlos kompostieren.
Ich besuche das Altenheim. Nein, heutzutage heißt es vornehm: das Seniorenheim. Nein, falsch, noch vornehmer: die Senioren-Residenz.
Meine Mutter versteht nicht was das sein soll: eine Senioren-Residenz. Sie hat mich mehrmals danach gefragt und ich habe mehrmals versucht es ihr zu erklären. Ich bin sicher: Bald wird sie mich wieder fragen.
Sie hat nicht zu uns ziehen wollen. Sie wollte uns nicht zur Last fallen. So sitze ich mit ihr am Fenster ihres Zimmers. Der Wind bewegt die Äste der Bäume. Heute ist Weihnachten. Ja, der ganze Tag heißt: Heiliger Abend.
Auf einmal wieder so viel Zeit. So viel Warten. Die Zeit dehnt sich und anders als in der Kindheit wünsche ich mir, dass sie nicht vergeht. Aber das Ende ist sichtbar draußen hinter den Bäumen.
Vorgestern minus sieben Grad. Viel Laub auf dem Boden, einige angefressene, angepickte Äpfel, die bleiben liegen für die Vögel und die Mäuse.
Still, fast idyllisch breitet sich der Garten aus. Je länger wir dasitzen und hinausschauen, desto mehr Unruhe scheint aufzukommen. Ist es die Unruhe in mir? Ach woher, Vögel, die nicht stillhalten.
"Schau!", sagt meine Mutter auf einmal und deutet hinaus. Das war das erste Wort, das sie heute gesagt hat. Eine Amsel hüpft durchs Laub und pickt und pickt. Ein Spatz fliegt hier hin, da hin. Der Grünfink verschwindet zwischen den Stauden am Weiher. Die Kohlmeise im Apfelbaum. Ein Eichelhäher. Ein Buntspecht. Ein Eichhörnchen. Alle sind sie unterwegs, halten sich nicht lang auf.
Wir wenden uns dem Tisch im Zimmer zu. Dort steht eine Schale mit Plätzchen und Orangen. Ich schäle meiner Mutter eine Orange ab. Danach schauen wir wieder zum Fenster hinaus. Kein Vogel mehr. Wo ist der Buntspecht? Fort ist das Eichhörnchen, ich erinnere mich an seine wellenförmigen Bewegungen und sein schwarzes Fell.
Hat sich mein Blick verändert? Ich bemühe mich, wieder nach draußen zu schauen. Will vergessen, was ich vorhin gesehen habe, will aufhören es zu verarbeiten und zu verwerten. Will einfach nur schauen, grad wie ein Kind. Einfach so schauen, wie meine 85-jährige Mutter.
Aber auf einmal wird ihr langweilig. Wir setzen uns wieder an den Tisch und blättern in einem Versandhauskatalog. Dort, wo sie mit den Augen hängen bleibt, lese ich ihr ein paar Zeilen der Beschreibung vor:
Diese zeitlos schönen Pullover bekommen durch das Glanzgarn einen feinen Schimmer. Femininer Schalkragen mit zwei dekorativen Knöpfen.
Sie nickt und will dann weiterblättern. Draußen im Gang klingelt ein Glöckchen. Das Christkind. Weihnachtsfeier für die Heimbewohner. Ich werde ihnen heute Gedichte vorlesen.
weihnachtsplaatzln
mit dene is s
wia mit de Leit:
wenns olt wern,
wern de oan woach
und de andern hoart
Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung. Die Dichterin Margret Hölle schreibt: Wia r a lange Kettn aus lauter Baidala hängan d Joahr um an Hals. Ich ziehe am Faden, an dem meine Erinnerungen aufgefädelt sind wie Perlen. Ich zieh dran, lasse die Perlen durch meine Finger gleiten. Hab angefangen mit dem Erinnern und kann nicht mehr aufhören. Eine Perle nach der anderen gleitet in die Hand und am Ende wickle ich den leeren Faden zu einem Knäuel, zusammen.
Die letzte Perle, ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter. Ein trauriges Weihnachtsfest. Auf der Kommode steht ihr Foto. Ich habe keine Blumen davor gestellt und keine Kerze. Ich habe Kiesel, verschiedene Kiesel davor gelegt, Kiesel, die ich unterwegs aufgelesen habe. Erinnerungen an sie.
Der Oberpfälzer Schriftsteller Eugen Oker hat einen biografischen Roman geschrieben und ihn genannt: Lebenspullover. Mir kommt es vor, als habe ich den Pullover nach und nach aufgetrennt, als ich am Erinnerungsfaden gezogen habe.
Weihnachten 2016. Eine neue Perle, eine Zukunfts-Perle, für den Lebensfaden. Besuch von unserem Enkel Simon. Zu Beginn des neuen Jahres wird er drei Jahre alt. Und wieder das Leuchten in den Augen eines Kindes, das sprachlose Staunen. Alles beginnt von vorn. Alles wiederholt sich und wird doch ganz anders.