Zum Sonntag Toleranz-Kultur für eine Gesellschaft voller Gegensätze
Vor 100 Jahren schrieb der Philosoph Helmuth Plessner sein Werk "Grenzen der Gemeinschaft", ein Plädoyer für eine Kultur der Toleranz in einer Gesellschaft voller Gegensätze. Genau, was wir brauchen, meint Olivia Mitscherlich-Schönherr.
Toleranz scheint nicht mehr zeitgemäß. Zunehmend schwindet die Bereitschaft, Menschen zu ertragen, deren Weise zu denken und zu leben, man selbst missbilligt. Die Symptome sind vielfältig: handgreifliche Angriffe auf Politiker, antisemitische Entgleisungen auf Kulturveranstaltungen, aber auch die rhetorische Mode, in öffentlichen Debatten Positionen politischer Gegner mit herabwürdigenden Zusatzattributen zu versehen, wie "ekelhaft" oder "widerlich".
Auch wenn sich vieles unterhalb des Straftatbestands abspielt, zersetzt der massive Rückgang von Toleranz die Grundlagen unserer pluralistischen Demokratie. Nur: wie lässt sich das Ertragen von Menschen und Positionen zurückgewinnen, die man noch nie mochte? An welche Traditionen und Kulturen der Toleranz können wir anknüpfen?
Wir verlernen Toleranz und das zersetzt die Gesellschaft
Hinweise finden sich in der kleinen Schrift "Grenzen der Gemeinschaft" des Philosophen Helmuth Plessner. Plessner hat diesen Text 1924 und damit in einer Zeit veröffentlicht, die von Gewalt gegen politische Gegner bestimmt war. Die Quellen politisch motivierter Gewalt findet der Philosoph in einem Gemeinschaftspathos, das Rechts- und Linksextreme eint – und das auch heute wieder um sich greift. Gemeint ist ein Stammesdenken, das sich in Freund-Feind-Gegenüberstellungen bewegt, das politische Miteinander nach dem Vorbild familiärer und religiöser Gemeinschaften zu einer gemeinsamen Volks- beziehungsweise Moralgemeinschaft umgestalten will und das alle Andersdenkende und -lebende als moralisch minderwertig verachtet.
Zur Autorin:
Olivia Mitscherlich-Schönherr ist lehrt Philosophische Anthropologie in München und erforscht die Grenzfragen menschlichen Lebens
Plessners Entgegnung provoziert bis heute. Er will die Freund-Feind-Gegenüberstellungen nicht schleifen, indem er um Verständnis für die anderen wirbt: dass sie doch eigentlich liebenswert seien. Er hält vielmehr ein glühendes Plädoyer für gesellschaftliche Entfremdung: für ein gesellschaftliches Miteinander unter Fremden, die einander nicht mögen. Er verteidigt die gesellschaftliche Öffentlichkeit als Sphäre der Entfremdung von den anderen und von sich selbst. Beides gehört zusammen. Toleranz unter Fremden geht nur mit Etikette, Höflichkeit, sozialen Rollenbildern – etwa als Politiker oder Journalistin –, in denen man nie ganz aufgeht, nicht ganz authentisch ist, aber vor persönlichen Übergriffen geschützt.
Toleranz gelingt dank sozialer Rollen und Etikette, Takt und Diplomatie
Zu denken ist an gesellschaftliche Verfahren mit verbindlichen Regeln. Aktuell heißt das etwa den Parteienproporz in politischen Gremien zu wahren und bei der Ämtervergabe wohl oder übel auch Vertreter der AfD zu berücksichtigen, solange diese Partei nicht verboten ist – ob einem dies gefällt oder nicht.
Und noch etwas gehört für Plessner zur Toleranz: Takt und Diplomatie. Im direkten persönlichen Umgang ist Takt verlangt, um einander auszuhalten. Es geht um Schonung vor authentisch geäußerter Abscheu, vor Verachtung. Man lässt die anderen ihre Unzulänglichkeiten nicht spüren und auch nicht die eigene – tatsächliche oder eingebildete – Überlegenheit. Man erspart einander Entblößung und Herabwürdigung.
Im Umgang zwischen fremden gesellschaftlichen Gruppierungen braucht es Diplomatie. Wenn geteilte Wertbindungen fehlen, besteht diplomatische Geschicklichkeit darin, das Aufbrechen von offener physischer Gewalt zu vermeiden. Dafür sind Kompromisse auszuhandeln, in denen alle Parteien ihre Interessen befriedigen, ihr Gesicht wahren können.
Wer konstruktiv streiten will, braucht eine Kultur der Toleranz
Aktuell würde man sich mehr Takt und mehr diplomatische Raffinesse im Umgang mit vielen gesellschaftlichen Streitthemen wünschen: vom Gendern über die Energiewende bis zum Nahostkonflikt.
Zu ihrem 100. Geburtstag sind Plessners "Grenzen der Gemeinschaft" so aktuell wie schon lange nicht mehr. Wir brauchen eine Kultur der Toleranz, um einander zu ertragen und Pluralismus Tag für Tag zu leben. Wir brauchen sie, um als pluralistische Gesellschaft handlungsfähig zu bleiben. Und wir brauchen sie, um weiterhin bürgerliche Freiheiten leben zu können: geschützt durch soziale Rollen als besondere Individuen in die Öffentlichkeit zu treten – ohne Verletzungen fürchten zu müssen.