Tagebücher Was Menschen darin festhalten
In der Psychologie gelten Tagebücher als Therapiemethode. Künstler dokumentieren in ihnen gerne ihre Erlebnisse. Für Historiker sind sie eine besondere Quelle. Und in Nürnberg haben Schülerinnen und Schüler Tagebuch geschrieben, um die Corona-Krise besser zu bewältigen.
Natascha Aydoğmuş ist Lehrerin an der Friedrich-Wilhelm-Herschel-Mittelschule im Nürnberger Süden und hat ihren Schülerinnen und Schülern Fatimah Al-Furaiji, Pascal Giesemann und vielen anderen mit einem Tagebuchprojekt über eine schwere Zeit hinweggeholfen – die Corona-Zeit. Das Schulgebäude, in dem rund 600 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, war verwaist, die Schülerinnen und Schüler waren zu Hausarrest verurteilt, und für sie war der Distanzunterricht eine weitaus größere Hürde als für Gymnasiasten aus privilegierteren Gesellschaftsschichten.
"Für unsere Kinder hier im Stadtteil Gibitzenhof war die Coronazeit und das Lernen in Distanz besonders schwierig, wir sind ein sehr kleiner Stadtteil mit einer sehr großen Bevölkerungsdichte. Das heißt, ganz viele Menschen wohnen auf sehr engem Raum, zum Teil sechs bis zehn Personen auf 60 Quadratmetern. Da kann man sich vorstellen, wie das für unsere Jugendlichen auch ist, von zuhause aus zu lernen. Da ist viel Trubel, da ist viel los, die Jugendlichen haben oft keine Rückzugsmöglichkeiten, um in Ruhe ihre Aufgaben zu machen oder am Online-Unterricht teilzunehmen, zum Teil hatten unsere Schülerinnen und Schüler auch nicht die digitalen Geräte, um das ordentlich machen zu können."
Jörn Wittmann, Direktor der Friedrich-Wilhelm-Herschel-Mittelschule in Nürnberg
Corona-Tagebuch hilft Kindern bei Krisenbewältigung
Die widrigen Umstände, die Schulleiter Jörn Wittmann schildert, konnten im Extremfall bedeuten, dass Kinder sich ins Kellerabteil der Familie zurückziehen mussten, wenn sie in Ruhe lernen wollten, und dem Unterricht nur auf dem kleinen Display ihres Smartphones folgen konnten – wenn sie denn überhaupt eines hatten. Schnell war klar, dass es nicht damit getan ist, technische Probleme zu lösen, um Lehrstoff zu vermitteln, sondern dass es notwendig ist, den Kindern und Jugendlichen ein Mittel in die Hand zu geben, um die Krisensituation seelisch zu bewältigen. Für Natascha Aydoğmuş ist freies, kreatives Schreiben ohnehin ein wichtiger Bestandteil des Deutschunterrichts. Zu jedem Schuljahresbeginn schenkt sie ihren Schülern Schreibhefte und motiviert sie dazu, aufzuschreiben, was sie bewegt. Somit lag die Idee sehr nahe, die Schüler ein Corona-Tagebuch führen zu lassen.
"Ich habe gemerkt, dass so sinnhafte Aufgaben in der Coronazeit, die dieses ganze Geschehen mit aufgreifen, dringend notwendig sind für die Kinder, gerade auch weil die Kinder untereinander manchmal nicht viel voneinander gehört haben, grade in der 5. Klasse hatten noch nicht alle ein Handy, das heißt, sie saßen zuhause und haben eigentlich gar nicht gewusst, was die anderen machen. Dann dachte ich mir, Mensch, das wäre eine schöne Sache, wenn man anonymisiert sozusagen erfahren kann, was bei den anderen los ist. Das wäre schön, einfach mal den Kindern eine Stimme zu geben, wirklich die Stimme der Kinder zu hören."
Natascha Aydoğmuş, Lehrerin an der Friedrich-Wilhelm-Herschel-Mittelschule in Nürnberg
Tagebucheinträge der Schülerinnen und Schüler
"My day like every day. Eigentlich nicht today, sondern, keine Ahnung, halt jeden Tag. In diesen Zeiten ist fast alles das Gleiche. Eigentlich wäre ich jetzt draußen in der normalen Welt und könnte essen gehen mit Freunden oder meine Tante besuchen oder in die Stadt gehen und mir neue Sachen gönnen. Aber stattdessen sitze ich hier rum zuhause und mache jeden einzelnen Tag das Gleiche." Tagebucheintrag von Schülerin Fatima Al-Furaiji
"In der Zeit fühle ich mich eigentlich ganz gut. Ich finde es gut, dass ich Schule zuhause machen kann und mir meinen Wochenplan und die Aufgaben der Lehrer frei einteilen kann. Ich muss nicht 45 Minuten oder länger dem Lehrer zuhören, sondern kann mich auch gut nach 30 Minuten mit was anderem beschäftigen. Dennoch fehlen mir meine Freunde und auch die Klassenkameraden. Der Schultag fehlt mir nicht so wirklich." Tagebucheintrag von Schüler Pascal Giesemann
"Ich bin seit drei Wochen zuhause. Ich vergesse fast jeden Tag, welcher Tag heute ist. Ich schreibe fast gar nicht mehr mit meinen Freunden, wir reden gar nicht mehr." anonym
"Ich habe meistens echt Angst, weil jeden Tag Menschen sterben." anonym
"Ich war mit meiner Mutter und meinem Bruder am Alten Kanal spazieren, um Vitamin D von der Sonne abzubekommen. Wir haben auch zuhause eine Torte gebacken, die Torte hatte Pflaumenmus und Sahne drinnen." anonym
"Ich bin seit zwei Wochen nur zuhause. Es ist immer das gleiche. Ich stehe auf, räume mein Zimmer auf, frühstücke, helfe meiner Mutter, mache die Hausis und lerne ein bisschen. Mir wird es langweilig jetzt ohne Schule." anonym
"Ich finde, die Menschen verändern sich. Sie machen sogenannte Hamsterkäufe. Sie kaufen Toilettenpapier, Nudeln, Mehl, Hefe, Zucker und Brot wie die Verrückten. Das ist zum Beispiel auch was, was ich nicht so mag, weil die älteren Leute, sowie meine Oma, brauchen auch Lebensmittel oder Toilettenpapier." anonym
"Mein Alltag sieht so aus: Ich spiele mit meinem Handy, schaue fernsehen und spreche mit meinen Freunden oder meinem Cousin. Meine Gefühle: Langeweile, Müdigkeit. Ich gehe später schlafen und stehe später auf." anonym
"Das Gute ist, dass ich so lange schlafen kann, wie ich will, ohne aufgeweckt zu werden. Schule habe ich keine mehr, aber immer noch Hausaufgaben, weil ich nicht komplett dumm werden soll. Hoffentlich endet das bald alles, denn mir ist langweilig." anonym
Die Rollen eines Tagebuchs: Dokumentation und Therapie
Damit erfüllt das Corona-Tagebuch der Herschel-Mittelschule zwei klassische Tagebuchrollen. Das Tagebuchschreiben als Dokumentation einer Welt im Ausnahmezustand, und zum anderen als Therapie, um sich den Leidensdruck aus Angst, Frustration, Monotonie und Vereinsamung von der Seele zu schreiben. Gottfried Keller nannte das Tagebuch "ein Asyl für jene grauen, hoffnungslosen Tage, die mir oft in stumpfem Nichtstun vorübergehen und spurlos in die dämmernde Vergangenheit verschwinden." Ein Asyl, das auch andere Autoren gern genutzt haben, um ihren Anfällen von Lebensüberdruss eine Heimat in Worten zu geben. Der Fürther Schriftsteller Jakob Wassermann schrieb am 11. Februar 1904 Folgendes in das Tagebuch, das er seinem erstgeborenen Sohn Adolf Albert gewidmet hatte.
"Gestern abend litt ich etwa eine Stunde lang an einer so grenzenlosen Langeweile, daß mir meine Existenz wie ein schwarzes Loch in der Schöpfung erschien. Man sollte so etwas nicht aufschreiben, aber bemerkenswert ist es doch. Alle Kräfte verraucht? Alle Hoffnungen erschöpft in solchen Stunden? Wäre dies die Grundstimmung des menschlichen Lebens, ich würde der Menschheit keine zwei Jahrhunderte mehr geben."
Tagebucheintrag von Jakob Wassermann, Schriftsteller
Die Zeit verrinnt, die Zeit verfließt, die Zeit vertickt. Wer Tagebuch führt, möchte sie festhalten, möchte seine Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse, die schlimmen wie die guten, vor dem Vergessen bewahren. Und: gerade in Zeiten, die als krisenhaft empfunden werden, steigt das Bedürfnis, Tagebuch zu führen. Zugleich lässt das dicht getaktete Leben kaum Zeit für ausführliche Tagebucheinträge. Wer schafft es heutzutage schon, wie Franz Kafka oder Viktor Klemperer den erlebten Tag seitenlang nachzuerzählen?
Tagebücher als Quelle für Historiker
Der Schriftsteller Ernst Jünger äußerte einmal, ob ein Küchenmädchen Tagebuch führe oder Leonardo da Vinci, sei natürlich ein qualitativer Unterschied, aber: "Jedes Tagebuch wird nach hundert Jahren bedeutend", fügte er hinzu.
"Tagebücher sind für einen Historiker, eine Historikerin schon eine besondere Quelle, sie zeigen sozusagen die Innensicht, die man ja sonst nicht hat. Und man erlebt in Tagebüchern einen Menschen, der ganz subjektiv seine Welt, die große und die kleine, erlebt und Erfahrungen in der Welt macht und auf diese Dinge und Ereignisse in der Welt reagiert; natürlich ganz subjektiv, aus seiner Sicht; und deshalb muss man, gerade als Historiker, Tagebücher immer hinterfragen, man muss sich überlegen, was ist das für ein Mensch, der da schreibt, und vor allem, was hat er für eine Motivation zu schreiben."
Barbara Ohm, Historikerin
Die Historikerin Barbara Ohm war von 1988 bis 2003 Heimatpflegerin der Stadt Fürth und hat die Stadtgeschichte zum 1.000-jährigen Jubiläum im Jahr 2007 in einem umfangreichen Werk dargestellt. Ins Kapitel über Fürth im Nationalsozialismus flossen auch die Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Daniel Lotter mit ein.
"Daniel Lotter war ein Fürther Lebküchner, aber er war ein sehr interessierter, belesener, kluger Mann, und er hat seine Tagebücher geschrieben von 1934 bis 1946, er ist also vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus interessant; und da ist es wirklich sehr lesenswert, was er schreibt, man kann nämlich nachvollziehen, wie er so langsam begreift, was der Nationalsozialismus ist, wie er auf Distanz geht, wie er Kritik übt, wie er auch begreift, was es für die Menschen bedeutet, die Angst haben, sich zu äußern, was es für ein Klima in der Stadt erzeugt."
Barbara Ohm, Historikerin
Die handschriftlichen Aufzeichnungen Lotters wurden erst nach seinem Tod von seinem Sohn Hans Lotter entdeckt und vom Enkel Herbert Jungkunz im Jahr 2001 transkribiert und mit Anmerkungen versehen. Daniel Lotters Tagebücher entfalten bei der Lektüre eine beklemmende Wirkung. Sie machen sichtbar, wie der gewohnte Alltag sich schrittweise zersetzt, über Monate und Jahre hinweg, und von immer mehr Repressalien bestimmt wird, denen auch Lotter in gewissem Maß ausgesetzt war. Als Mitglied der Fürther Freimaurerloge war er den Nazis suspekt; auch weigerte er sich, an seinem Laden das Schild "Zutritt für Juden verboten" anzubringen. Lotter schildert Episoden aus dem Alltag im "Dritten Reich", die keinen Eingang in die große Geschichtsschreibung gefunden haben, auch, weil sich in ihnen das private, familiäre Leben, das ebenfalls in den Tagebüchern festgehalten ist, mit dem herrschenden politischen Leben mischt.
Tagebucheinträge von Daniel Lotter
29. Juli 1934
Der Umstand, daß vor einigen Wochen Onkel Heiner mit einem jüdischen Ehepaar über den Turnplatz ging, hat einem anonymen Ehrabschneider Veranlassung gegeben, einen hundsgemeinen, von Lügen und Verdächtigungen strotzenden Artikel zu schreiben. Die „Fränkische Tageszeitung“ und der „Fürther Anzeiger“ waren gemein genug, den Artikel aufzunehmen.
24. Juli 1935
Da der Gruß „Heil Hitler“ sich nicht in der Weise einbürgert, wie es gewünscht wird, und die alten schönen Grußformen wieder mehr und mehr das Übergewicht bekommen, so tritt man neuerdings an die Einzelhändler mit dem Verlangen heran, die Kunden nur noch ausschließlich mit „Heil Hitler“ zu begrüßen und dadurch „erzieherisch“ zu wirken. Ein entsprechender Hinweis soll zwangsweise in den Läden angebracht werden. Einen auswärtigen Apotheker, der die Anwendung das Grußes verweigerte, hat man bereits vor das Gericht seines Verbandes geladen.
16. Oktober 1935
In Hersbruck wurden vor etwa drei Wochen 15 Bauern aus der Umgebung mit Gummischläuchen durch die Stadt getrieben, nachdem ihnen eine Tafel umgehängt worden war mit der Aufschrift: „Wir sind Volksverräter - wir haben unsern Hopfen an Juden verkauft“. Der Anlaß zum Verkauf an Juden soll gewesen sein, daß sie ihr Geld sofort bezahlt erhielten, während sie bei Abgabe an die Einkaufsgenossenschaft wochenlang hätten warten müssen. Einer der Mißhandelten soll einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, ein anderer mußte vom Selbstmord zurückgehalten werden. Die Zeitungen schweigen sich über den Vorfall aus. Auch die Polizei hat sich anscheinend zum Einschreiten nicht veranlaßt gesehn.
Die letzten beiden Sätze des zuletzt aufgeführten Eintrags verraten, dass im Jahr 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung, noch immer eine gewisse Erwartung bestand, dass die Presse wahrheitsgemäß berichten könnte, oder dass noch ein Rest vom Rechtsstaat vorhanden sein könnte, der gegen Gewaltexzesse einschreitet. Es muss damals schwergefallen sein, das Unfassbare zu glauben und sich einzugestehen, dass man sich in einer Diktatur befindet, die sich aller Institutionen bemächtigt hat, in die man einst sein Vertrauen setzte.
In ihrem weiteren Verlauf sparen Daniel Lotters Tagebücher keines der Verbrechen aus, die von den Nationalsozialisten begangen wurden; allein den ruchbar gewordenen systematischen Morden in den Heil- und Pflegeanstalten widmet er drei ausführliche Einträge, nicht ohne hinzuzufügen, wie schwer es ihm falle, zu glauben, dass seine Landsleute zu derlei Taten imstande sind, oder dass ihm das Herz blute, solche Dinge festhalten zu müssen.
"Was Lotter auch auszeichnet, ist einfach Weitblick. Er schreibt also zum Beispiel nach der Pogromnacht 1938, dass es eine Schande ist, die den Deutschen noch lange anhängen wird. Er schreibt dann, 1946, über die Nürnberger Prozesse, dass da grauenhafte Einzelheiten zur Sprache gekommen sind, die dem deutschen Namen in hundert Jahren als unauflöslicher Schandfleck anhaften werden. Also er hat wirklich gesehen, wie weitreichend diese Ereignisse waren."
Barbara Ohm, Historikerin
Die Reisetagebücher des Künstlers Fredder Wanoth
Eine ganz besondere Form des Tagebuchs entsteht, wenn der zeitlichen Dimension die räumliche hinzugefügt wird – im Reisetagebuch. Der Nürnberger Maler, Zeichner und Fotograf Fredder Wanoth bereist mit Vorliebe denjenigen Teil Europas, der bis 1989 hinter dem Eisernen Vorhang verborgen war, und hält seine Eindrücke in Wort und Bild fest. Er bezeichnet sich selbst als Städtesammler, wobei man unter "Stadt" nicht nur die Metropolen verstehen darf; in seiner reichhaltigen Sammlung befinden sich auch nordböhmische Klein- und Mittelstädte wie Sokolov, Chomutov oder Liberec.
"In den Städten finde ich immer was Markantes, was sich lohnt, verfremdet zu werden. Ich bin auch der Ansicht, dass Städte nicht zufällig einfach so entstehen, sondern dass die ganz typischerweise gerade an dem Ort so entstehen, und so auch gewachsen sind, und so auch auf ihre Menschen ausstrahlen, wie umgekehrt natürlich die Menschen auch wiederum die Architektur beeinflussen, also es ist quasi so eine Zivilisationspsychologie, würde ich jetzt mal sagen, anhand von Architektur."
Fredder Wanoth, Künstler
Die in über dreißig Jahren entstandenen rund 50 Reisetagebücher stellen einen festen Bestandteil seines künstlerischen Schaffens dar, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Fredder Wanoth auf Grundlage von Künstlerstipendien längere Zeit in den Nürnberger Partnerstädten Krakau, Antalya und Skopje aufhalten konnte. Die Initialzündung für das, was er "Städte sammeln" nennt, hat 1989 in Krakau stattgefunden. Was an Fredder Wanoths Reisetagebüchern eine starke Faszination ausübt, ist die Mischung aus der ebenso eigenwilligen wie akribischen zeichnerischen Dokumentation und den schriftlichen Einträgen, die persönliche Befindlichkeiten ebenso widerspiegeln wie die Versuche, das Wesen der jeweiligen Stadt zu erfassen. Und auch Beobachtungen auf der Reise selbst fließen in die Tagebuchtexte ein, wie hier eine Bahnfahrt durch Westböhmen von Klatovy nach Domažlice.
Tagebucheintrag von Fredder Wanoth
"Der 'Zug' ist kein Zug, sondern ein 'Bus', aber er fährt auf Schienen und am ominösen Gleis 8, das eigentlich Gleis 1 ist, warten schon drei bäuchige Teiluniformierte, ob überhaupt Fahrgäste kommen und setzen den Schienenbus dann pünktlich für uns in Betrieb: Wir kurven durch die Landschaft, vorbei an Tafelsignalen, die wahrscheinlich noch lange vor der ersten tschechoslowakischen Republik von einem fernen k.u.k.-Minister genehmigt worden sind. Auch steigen an einsamen, doch immer noch imposanten Bahnhofsgebäuden weitere Fahrgäste ein, die brav beim Schaffner Fahrscheine erwerben – aber sie haben kein Schlachtgeflügel dabei oder Milchkannen, sondern scheinen die modernen immateriellen Tätigkeiten verfolgen zu müssen. Doch erinnert alles fazinierenderweise an eine Bahnfahrt Mitte der 60er Jahre auf einer sogenannten Sekundärbahn, die längst stillgelegt und abgebaut worden ist."
Aber auch die Krise der Zeit findet ihren Niederschlag in Fredder Wanoths Reisetagebüchern – teils dadurch, dass es ab März 2020 einen meist sehr eingeschränkten Bewegungsradius dokumentiert, teils dadurch, dass er auch auf diesen Klein- und Kleinstausflügen zunächst alles festhielt, was ihm bemerkenswert erschien.
"Am Anfang war ich ja noch ganz interessiert, hab alles abfotografiert, auch die BILD-Zeitungs-Schlagzeilen: 'Kunde hustet NORMA-Mitarbeiter ins Gesicht' – Sauerei! Oder auch Absurdes, diese Absperrbänder überall, selbst vor kleinen Spielplatztoren oder über Tennisplatten. Am Anfang fand ich das noch originell, das hat sich dann aber irgendwann erschöpft, und ich habe dann auch keine Lust mehr gehabt, sowas zu fotografieren."
Freder Wanoth, Künstler
Von banal bis bedeutsam: der Reiz des Tagebuchs
Die Zeit verrinnt, die Zeit verfließt und bringt mit ihrem Fluss Ereignisse ins Leben, rauschende Feste und Zahnarzttermine, Fußballsiege und Magenverstimmungen, Karrieresprünge und Autopannen. Genau diese Vielfalt, wie die Zeit sie bringt, macht den Reiz des Tagebuchs aus, in das die Persönlichkeit des Tagebuchschreibers ebenso hineinfließen kann wie der Lauf der Welt und wo das Banale direkt neben dem Bedeutsamen seinen Platz hat wie in Franz Kafkas berühmtem Tagebucheintrag vom 2. August 1914: "Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule."