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Nachruf: Trauer um Jochen Wehner Opernkapellmeister. Blasmusikmentor. Geschichtenerzähler.

Der Dirigent, Komponist und Arrangeur, Jochen Wehner, ist am 09. Juni im Alter von 84 Jahren verstorben. In der Welt der Blasorchester hat er Maßstäbe gesetzt hat: als Chef des Rundfunkblasorchesters Leipzig, als Lehrer in der Dirigent*innenausbildung, aber auch als Vorbild dafür, was einen guten Dirigenten ausmacht.

Von: Stephan Ametsbichler

Stand: 26.06.2020 | Archiv

Er war ein feiner, ein feinsinniger, sehr humorvoller, lebensfroher Mensch, der offen auf andere zugegangen ist und sie mit seiner Begeisterung angesteckt hat. Begeisterung für die Musik, für die Oper ... von der er letztlich gekommen ist ... und überhaupt für jede Form von „inszenierter Musik“. Denn Musik in Szene zu setzen, mit möglichst vielen räumlich verteilten Klangkörpern gleichzeitig zu agieren und so auch dramaturgische Wirkungen zu erzielen, das war schon eine seiner Leidenschaften. Dann dirigierte er, wie es Ernst Oestreicher einmal so treffend beobachtete, „mit weit ausladenden Armbewegungen wie ein Feldherr seine Truppen.“ Er liebte es, immer wieder neue Werke auch immer wieder neu aufs Blasorchester umzusetzen. Und das hieß bei Jochen Wehner mehr als nur die möglichst werktreue Realisierung einer Transkription, für ihn bedeutete das auch, Musik mit einem neuen Medium auch neues Leben einzuhauchen.

Opern- und Sinfonieorchesterdirigent

Als Opern- und Sinfonieorchesterdirigent kannte er sich aus in der großen Welt der „Ernsten Musik“. Und er bewegte sich dabei nicht nur im Zentrum der „Best of“ des Musikbetriebs. Nein, mit Jochen Wehner konnte man sich auch über Abseitiges und Unbekanntes unterhalten. Und sollte er tatsächlich einmal etwas nicht kennen, machte gerade das ihn neugierig und wissbegierig. Was er auch immer als Dirigent, Arrangeur oder Autor eines Aufsatzes nicht nur anfasste, sondern richtig in die Hand nahm, hatte auch seine Handschrift: die eines akribischen Tüftlers, eines Wissenschaftlers, der sein Wissensmosaik ständig erweitern und vervollständigen wollte.

Belesen, gebildet und für jede Form von guter! Musik zu haben. Nicht auf ein bestimmtes Genre fixiert, hat er jede Musik, die seinen Vorstellungen von einem guten Niveau entsprach, auf ihre Möglichkeiten hin abgeklopft und dann auch umgesetzt. Spätestens seit seiner Tätigkeit als Chef des Rundfunkblasorchesters Leipzig, stand für den gelernten Klarinettisten die Welt des Blasorchesters im Fokus. Ihr hat Jochen Wehner den Horizont erweitert und sie mit neuen Impulsen beflügelt.

Vom Generalmusikdirektor in Schwerin zum Rundfunklektor

Geboren wurde Jochen Wehner am 07. März 1936 in Göttingen.
Nach dem Abitur studierte er in Halle und Dresden Dirigieren , Komponieren, Klarinette und Violoncello und war Kapellmeister in Magdeburg, Brandenburg und Stendal, ehe er 1970 als Generalmusikdirektor an das Staatstheater Schwerin verpflichtet wurde.

Sein Faible für zeitgenössischen Musik führte ihn schließlich zum Rundfunk in Leipzig, wo er von 1973 bis 1990 als Produzent, Dirigent und Lektor für Neue Musik tätig war. Als Dirigent des Leipziger Rundfunkchores verantwortete er zahlreiche Schallplattenaufnahmen. Zusammen mit Gerhard Richter und Gert Frischmuth betreute Jochen Wehner zwischen 1978 und 1980 den Rundfunkchor interimistisch. Parallel dazu hatte er einen Lehrauftrag für die Fächer Partiturspiel und Dirigieren an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig inne. Gastdirigate führten ihn zu Rundfunksendern in Polen, der ČSSR und Rumänien, sowie zu renommierten Orchestern, wie der Staatskapelle Dresden und dem Berliner Sinfonieorchester.

Chefdirigent in Karlstad und beim Rundfunkblasorchester Leipzig

Noch vor der Wiedervereinigung wurde Jochen Wehner 1988 zunächst Gast- und später Chefdirigent an der Värmlandsoperan im schwedischen Karlstad. Zudem führten ihn ständige Gastdirigate an die Oper in Göteborg und an die Norwegische Nationaloper in Oslo.

1994 kehrte er nach Leipzig zurück und übernahm die Chefposition des Rundfunk-Blasorchester Leipzig. Dieser Klangkörper war mit der Gründung des MDR aus dem Rundfunk ausgegliedert worden und agierte nunmehr in einer neuen, staatlichen Trägerstruktur. Mit der Trennung vom Rundfunk entfiel auch die ständige Produktionstätigkeit. Konzerte standen jetzt mehr im Mittelpunkt und, mit der Gründung der „Sächsischen Bläserakademie, die seit 2011 als „Deutsche Bläserakademie“ firmiert, auch eine neue musikpädagogische Aufgabe: die Fortbildung von Blasorchestermusikern und die Ausbildung von Blasorchesterdirigenten. Auch hierfür stand jetzt die Infrastruktur „RBO Leipzig“ zur Verfügung, mit Musikern, die als Dozenten wirkten und mit einem Orchester, das als Lehrgangsorchester für angehende Dirigenten fungierte.
Dazu kam ein Notenbestand von 27.000 Originalpartituren, die sich als Spezialarrangements für diese auch sehr spezielle Besetzung ohne Saxophone, seit der Gründung des RBO 1950, vor 70 Jahren, angesammelt hatten.

Begeistert von Sinfonischer Blasmusik

Jochen Wehner widmete sich mit diesem Orchester insbesondere der Sinfonischen Bläsermusik und der Kammermusik für Bläser und nutze alle klanglichen Facetten, die ihm dabei zur Verfügung standen. Trotzdem blieb auch das Element der gehobenen Unterhaltung weiter präsent.
Ein besonderes und unter dem Aspekt der Werktreue zunächst umstrittenes Vorhaben war 1996 der Auftrag an den Berliner Komponisten und Arrangeur Siegmund Goldhammer, für das Blasorchester Mozarts komplette "Zauberflöte" zu instrumentieren. Aber gerade auch dieser selbst gestellten Herausforderung wurde das RBO mit seinem Chefdirigenten Jochen Wehner auch in einer vielbeachteten CD-Einspielung mehr als gerecht.

Nach seiner Pensionierung 2000 überfiel Jochen Wehner der sprichwörtliche Unruhestand … wenn er nicht gerade tatsächlich Sommerurlaub machte und diesen mit seiner schwedischen Frau auch in Schweden verbrachte. Er war auf Lehrgängen als Dirigierlehrer und Referent zu vielen Themen der Bläsermusik zu erleben, man konnte seine Aufsätze in Fachzeitschriften lesen, seinen Moderationen zuhören, sich seinen kritischen Jury-Worten aussetzen und ihn weiterhin als Dirigenten bewundern.

Jochen Wehner, ein konstruktiver Kritiker

Klaus Härtel hat ihn anlässlich seines 75. Geburtstages in der Zeitschrift Clarino als „guten Zuhörer, sachkundigen Wegweiser, schonungslos ehrlichen konstruktiven Kritiker und als einen impulsiven Inspirator“ charakterisiert.

2004 dirigierte er ein Konzert mit Beethovens 9. Sinfonie im Rahmen der Feierlichkeiten zu „10 Jahre Kulturbeziehungen Deutschland – Rumänien“ in Klausenburg. Ein Jahr später stand er am Pult der Hofer Symphoniker und des Jugendblasorchesters des Nordbayerischen Musikbundes. Gastdirigate führten ihn unter anderem zur Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz, 2007 zu den Hohentwiel-Festspielen, zum Städtischen Blasorchester Singen und zu den Balinger Musiktagen.
Bis 2019 war er zudem Mitglied der Literaturkommission der Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände.

Die letzten 20 Jahre lebte Jochen Wehner in seiner neuen Wahlheimat Heiligenberg, nördlich des Bodensees. Dort verstarb er am 09. Juni 2020 nach längerer Krankheit.

Natürlich und mit kindlicher Freude bei einer Tafel Schokolade

Unaufdringlich, gab er weiter, was sich an Wissensschatz über die Jahrzehnte in seinem markanten Musikerkopf und hinter seiner bisweilen spitzbübischen Mimik angehäuft hatten. Oft genug entwickelte sich ein anfangs nachdenklich ernster Gesichtsausdruck über ein freundliches Lächeln zu einem temperamentvollen Lachen, eine ehrliche, natürlich kindliche Freude darüber, etwas entdeckt, bestätigt bekommen oder auch neu dazugelernt zu haben.

Denn darin, im gegenseitigen Austausch, bestand sein Verständnis von Wissensvermittlung. Ob mit seinen Schülern oder mit seinen Kollegen, es entwickelten sich stets Gespräche auf hohem, ja durchaus ambitionierten intellektuellen Niveau, die … schon allein wegen ihrer Durchdringung mit humorigen Einschüben … dennoch eher als anregende Plauderei daherkamen und niemals auch nur den Hauch einer anstrengenden oder angestrengt wirkenden Diskussion hatten. An eben diese anregenden Unterhaltungen, auch mal bei einem Glas Rotwein und einer Tafel Schokolade, werden sich alle, die mit ihm zu tun haben durften, besonders gerne erinnern.


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