Oberammergau Vier Jahrhunderte Ringen mit der Passion
Jede Generation bringt ihre Passion auf die Bühne - seit bald 400 Jahren. Doch die Passionsspiele sind mehr als nur Volkstheater: Sie sind ein beständiges Ringen mit dem Text und um die Form, mit den Mächtigen und mit dem Dorf.
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1633
Pesttote in Oberammergau, Auszug aus dem Matrikelbuch
1633
Dreißigjähriger Krieg - Der schwarze Tod und das Passionsspiel
In Europa wütet seit über zehn Jahren ein grauenvoller Krieg, in seinem Schlepptau die Pest. Mindestens 80 Menschen, gut zehn Prozent der Bevölkerung, sind ihr 1631/32 in Oberammergau zum Opfer gefallen. Doch dann sind, so beschreibt es der anonyme Autor der Dorfchronik, "die Gemeinds-Leuthe (...) zusammen gekommen, und haben die Pasions-Tragedie alle 10 Jahre zu halten Verlobet, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben." 1634 werden die ersten Passionsspiele von 60 bis 70 Darstellern aufgeführt beim "Gelübdekreuz" auf dem Oberammergauer Friedhof.
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1662
Prolog aus dem Textbuch der Passionsspiele 1662
1662
Jenseits des Glaubensstreits - Zwei Kirchen, ein Text
Die älteste erhaltene Textfassung von 1662 hat Schulmeister Georg Kaiser zusammengestellt. Große Teile der 4.902 Verse stammen aus älteren Passionsspielen. Die wichtigsten Quellen sind ein mittelalterliches Spiel, das im Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra gefunden wurde, und die "Tragedi" von Sebastian Wild. Das Werk des Augsburger Meistersingers von 1566 ist der Reformation verpflichtet. Einige wenige Verse stammen original aus Oberammergau. 1674 gibt es bereits teilweise musikalische Begleitung, 1680 wechselt das Aufführungsjahr auf eine runde Zehnerzahl. Der Grund dafür ist unbekannt.
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1730
St. Peter und Paul in Oberammergau mit dem "Gelübdekreuz" am Seitenaltar
1730
Der Teufel tritt auf - Endgültiger Abschied vom Mittelalter
Die Passionsspiele haben sich gut 100 Jahre nach ihrer Premiere endgültig aus dem mittelalterlichen Kontext gelöst. Der Text wurde mehrfach überarbeitet und in Akte eingeteilt. Seit 1720 wird durch Bühnenbilder und gestaffelter Kulisse ein echter Illusionsraum erzeugt. Anselm Manhardt, Augustiner aus Rottenbuch, bringt nicht nur den Teufel, sondern auch Darstellungen der Todsünden ("Allegorien") auf die Bühne. Besonders beliebt ist auch das Stilmittel des "Lebenden Bildes", in der eine Szene eingefroren wird.
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1750
Benediktinerpater Ferdinand Rosner (1709-1778)
1750
Barocktheater - Die neue Passion
Aus dem benachbarten Ettal stammt Rhetorikprofessor Ferdinand Rosner. "Bitteres Leyden, Obsiegender Todt, und glorreiche Auferstehung des Eingefleischten Sohn Gottes" heißt seine 8.457 Verse lange, hochbarocke "Passio nova". Jedem der neun Akte ist ein "Lebendes Bild" mit Szenen aus dem Alten Testament als "Präfiguration" vorangestellt. Sie verweisen auf das Heilsgeschehen des Neuen Testaments. Der Rosner-Text ist stilbildend für fast alle Passionsspiele in Oberbayern und wird heute noch in Freising aufgeführt.
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1770
Oberammergauer Passionsprivileg 1780
1770
Die Kirche lässt die Passionsspiele verbieten
Zechgelage und Gelächter: Die Passionsspiele - aufgeführt zur Karzeit - sind der Geistlichkeit zunehmend ein Dorn im Auge. Sie interveniert bei Hofe und erreicht am 6.3.1763 ein Generalverbot für Passionsspiele mit der Begründung, dass "ergerliche Mißbreuch und Raufhändel (...) wider die Geboth Gottes und seiner Kirche geschehen seyen." Die Spiele 1770 fallen daher aus. 1780 erhält Oberammergau ein Passionsprivileg dank der von Magnus Knipfelberger überarbeiteten Version. Sie ist im subjektivistisch-empfindsamen Stil der Zeit gehalten.
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1810
Komponist Rochus Dedler (1779-1822)
1810
Aufklärung - Oberammergau vor dem Aus
Am 11.9.1801, am Vorabend der Säkularisation, verbietet Graf Montgelas die Passionsspiele von 1810. Diesmal folgt das Verbot dem Geist der Aufklärung. Im rationalistischen Zeitalter hat die barocke Volksfrömmigkeit keinen Platz mehr. Doch schon 1811 werden die Spiele nachgeholt. Othmar Weis überarbeitet die Passion vollständig zu einem Historiendrama, streicht die "Allegorien" und die Auferstehungsszene und konzentriert sich auf moralische Fragen und den Versöhnungsgedanken. Allerdings fehlt dem Stück die sprachliche Wucht. Von Rochus Dedler stammt die bis heute verwendete Musik.
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1830
Modell der Passionsspielbühne von 1830
1830
Romantik - Passionsspiele überall
Im Zuge der Romantik und ihrer Sehnsucht nach volkstümlichen Stoffen und Darstellungsformen, finden die Passionsspiele immer größeren Anklang - zum Schaden der Oberammergauer. Zuschauer bleiben aus, weil benachbarte Orte wie Mittenwald, Waal, Tölz oder Axams eigene Spiele veranstalten - meist mit dem Text aus Oberammergau. Für 1830 genehmigt König Ludwig I. die Passionsspiele nur unter der Auflage, nicht mehr auf dem Friedhof zu spielen. Auf einer Wiese am Dorfrand wird daher eine Bühne errichtet. Dort steht heute das Passionstheater.
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1860
Pfarrer Joseph Alois Daisenberger (1799-1883)
1860
Vorbild Antike - Daisenbergers klassizistische Epoche
1850 übernimmt der Dorfpfarrer und Weis-Schüler Joseph Alois Daisenberger die Spielleitung. Nach Kritik der Regierung überarbeitet er für die Inszenierung von 1860 die Spiele vollständig. Vorbild ist nun die in drei Akte eingeteilte klassische Tragödie des "Ideentheaters": Das Geschehen auf der Bühne stellt nicht mehr die Passion dar, sondern verweist in ihrer Symbolik auf das göttliche Heilsgeschehen. Vorbild ist Goethes "Faust", Grundlage des Textes wird das metaphernreiche Johannesevangelium. 1860 zählt Oberammergau erstmals über 100.000 Besucher, teilweise aus ganz Europa.
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1890
Jonas im Wal (Aufführung 1871)
1890
Moderne - Kulturkampf und Hightech
Zur Jahrhundertwende beherrscht Technik die Bühne: 1880 bekommt das Passionsspielhaus nach dem Vorbild von Wagners Festspielhaus einen Orchestergraben. 1880 wird die Bühne erweitert, mit einem Glasdach und einer Flugmaschine für den Ölbergengel ausgestattet. Inhaltlich aber stagnieren die Spiele. Mehrere Überarbeitungen werden verworfen und Daisenbergers Vorlage immer stärker verstümmelt. Doch die Passionsspiele sind beliebt im Kulturkampf, denn sie stehen für eine vorgeblich unverfälschte Volkskultur. Seit 1880 organisiert Thomas Cook Reisen für ausländische Gäste aus Britannien und den USA.
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1922
Passionsspielbühne 1922
1922
Zeitenwende - Zwischen den Kriegen
Oberammergau wird zum Zankapfel zwischen Reaktion und Modernisten. 1880 wird Ludwig Ganghofer mit dem Volksstück "Der Herrgottschnitzer von Ammergau" berühmt. Lion Feuchtwanger hingegen beleuchtet die Passionsspiele kritisch in seinem Roman "Erfolg" (1930). Wegen des Ersten Weltkrieges muss die Vorstellung 1920 verschoben werden. Obwohl es noch immer keinen neuen Text gibt, sind die Passionsspiele von 1922 unerwartet erfolgreich. Und obwohl die Inflation den gesamten Gewinn vernichtet, schlägt die Gemeinde Verfilmungsangebote aus Hollywood aus - und bleibt bis heute bei dieser Haltung!
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1934
Adolf Hitler bei den Passionsspielen 1934
1934
NS-Zeit - Missio canonica und Hitler in Oberammergau
"Deutschland ruft", steht auf den Werbeplakaten anlässlich der Sonderspiele zum 300-jährigen Jubiläum. Hitler kommt nach Oberammergau, sind ihm doch die Passionsspiele Ausdruck der "Treue zu Blut und Boden" (so eine Rezension von 1934). Nicht alle Oberammergauer sind von der Vereinnahmung begeistert, die Kirche dagegen wehrt sich. Denn Heimatgefühl erwachse, so die Begründung, nur in "wahrer, lebendiger Religion". Deshalb verleiht der Vatikan den Passionsspielen die "missio canonica", die offizielle Lehrbefugnis. Der Zweite Weltkrieg verhindert die "reichswichtigen" Spiele von 1940.
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1950
1950 darf ein amerikanischer Junge mit auf die Bühne
1950
Nach dem Krieg - Verpasste Aufarbeitung
"1.000 Jahre christliche Kunst im Zeichen der Passion", heißt die Ausstellung in Oberammergau anlässlich der Spiele 1950. Der restaurative Geist der 1950er-Jahre weht auch in Oberammergau: kein Neuanfang, keine Diskussion über antisemitische Tendenzen im Passionsspieltext. Die Ausstellung floppt und aufgeführt wird die Textfassung von 1930. Auch 1960 bewegt sich nicht viel. Doch werden zunehmend kritische Stimmen gegen das Stück laut, in dem Juden als "Mörder", "Bösewichte" und "finstere Menschen" diffamiert werden.
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1970
Komponist Carl Orff (1895-1982)
1970
Orff - Boykottdrohungen und eine späte Antisemitismusdebatte
1962 erklärt sich Carl Orff bereit, die Spiele für 1970 neu zu vertonen - allerdings auf Grundlage von Rosners "passio nova" von 1750. Die Gemeinde stimmt zu. Vorangegangen war eine späte Auseinandersetzung um die Antisemitismusvorwürfe. Doch es kommt zum Eklat: Eine Probevorstellung mit Rosners altem Text findet nicht statt, stattdessen wird 1970 wieder die kritisierte Daisenberger-Fassung aufgeführt. In Amerika formiert sich eine Boykottbewegung und in Oberammergau kommt es zu mehreren Kampfabstimmungen. 1980 wird eine bereinigte Passion gezeigt, erstmals auch in doppelter Besetzung.
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1990
Spielleiter Christian Stückl (*1961)
1990
Stückl I - Die Jugend erobert Oberammergau
Auch zum 350-Jahre-Jubiläum der Passionsspiele 1984 wird der Daisenberger Text aufgeführt, für 1990 ist Gleiches vorgesehen. Doch dann wird 1986 überraschend der erst 25 Jahre alte Christian Stückl zum Spielleiter gewählt. Als der gelernte Holzschnitzer und Dramaturg mit einer stark verjüngten Mannschaft antritt, kommt es zu dramatischen Auseinandersetzungen. Stückl kann sich knapp behaupten. Eine Textkommission wird beauftragt, es kommt jedoch nur zu punktuellen Änderungen. Das Oberlandesgericht erlaubt erstmals auch verheirateten und über 35 Jahre alten Frauen das Mitspielen.
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2010
Plakat zu den Passionsspielen 2010
2010
Stückl II - Der Reformator und der politische Jesus
Erst zu den Passionsspielen 2000 können sich der wiedergewählte Stückl und der zweite Spielleiter Otto Huber durchsetzen. In der größten Textreform seit Daisenberger im Jahr 1860 werden die Antijudaismen getilgt und die Figuren deutlicher konturiert. Doch Stückl bleibt nicht stehen: Zur Passion 2010 wird die Jesusfigur politischer und radikaler. Die Bergpredigt und die Figur des Judas bekommen zentrale Bedeutung. Wie schon 2000 werden Bühnenbilder und Kostüme völlig neu gestaltet. Auch diese Passionsspiele sind nicht unumstritten, das 400 Jahre währende Ringen mit der Passion geht weiter.