Was bewegt Deutschland? Merkel im Pegida-Land
Die sächsische CDU hat ihren Wahlkampfauftakt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in das konservative Erzgebirge gelegt, normalerweise eine, wie man so schön sagt, „sichere Bank“ für die Christdemokraten.
Neben CDU-getreuen Bürgern haben sich auch rund 150 Kritiker und Merkel-Gegner auf dem pittoresken Annaberger Marktplatz eingefunden. AfD-Anhänger und Pegida-Aktivisten schwenken Fahnen und Plakate mit Merkels Konterfei und dem Slogan „Not my Kanzlerin“ oder „Der Islam? – Passt nicht zu unserer Küche“, darunter ein rosa Ferkel auf einem blauen AfD-Plakat. Wütende Männer und Frauen aller Altersklassen zücken ihre Trillerpfeifen, machen lautstark und teils aggressiv ihrer Wut Luft.
Die Bundeskanzlerin, die an diesem Tag unter anderem von Bundesinnenminister Thomas de Maiziere und dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich begleitet wird, wirbt in ihrer Rede um das Vertrauen der Menschen, räumt ein, dass die Welt insgesamt unübersichtlicher und unberechenbarer geworden sei und dass die CDU am 24. September ein Angebot mache, wie man die aktuellen Probleme lösen könne.
Einem Mann um die 60, der extra aus Leipzig angereist ist, platzt der Kragen. Er sei, so sagt er Unternehmer und habe Jahrelange die CDU gewählt. Damit sei nun Schluss, denn:
"Ich liebe unsere Kultur, und ich sehe, unsere Kultur geht den Bach runter und das ist gar nicht mehr aufzuhalten, und diese Person, die richtet Europa zugrunde. Kein Land macht das mit, was sich hier abspielt!"
Bürger aus Annaberg-Buchholz
Soviel Wut und offenen Hass hat man hierzulande in einem Wahlkampf noch nicht gesehen. Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Die vieldiskutierte Enthemmung der Gesellschaft wird auf der Straße sichtbar und breitet sich schnell in den geschlossenen Echo-Sphären des Internets aus. Die Vermischung von ungeprüften Fakten, Verschwörungstheorien und Vorurteilen sowie die Verallgemeinerung von Einzelfällen schaffen ein Klima der Verunsicherung und Angst bei vielen Bürgern.
AfD trifft die diffusen Ängste der Bürger
Diese Unsicherheit und diese Gemütslage weiß das Spitzenpersonal der Partei Alternative für Deutschland gezielt zu befeuern. Bei einem Wahlkampfauftritt im sächsischen Bautzen zielt AFD-Spitzenkandidat Alexander Gauland punktgenau auf die diffusen Ängste seiner „lieben Freunde“, wie er die rund 600 Zuhörer auf dem Kornmarkt nennt.
Woher kommt diese Wut der Bürger? Warum sind viele Sachsen so unzufrieden? Eine Frage auf die es keine einfache Antwort gibt. Eine Entwicklung, die sich allerdings schon seit einigen Jahren abzeichnet, zuletzt besonders sichtbar in der Wahlbeteiligung bei der sächsischen Landtagswahl im Jahr 2014.
Politverdrossenheit macht Parteistrategen zu schaffen
Vor drei Jahren ging mit 49,2 Prozent nicht einmal jeder zweite Wahlberechtigte zur Urne. Zum Vergleich: im Jahr 1990 waren es noch 73 Prozent. Im Herbst 2014 gab jeder siebte Wähler in Sachsen seine Stimme an die rechtspopulistische AfD oder an die NPD. Die Abkehr der Bürger von der Politik und das Desinteresse an den Wahlen machen Analysten und Politologen ebenso zu schaffen wie den Parteistrategen.
Petra Köpping, in der DDR aufgewachsen, heute sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration hat sich die Beantwortung dieser Schieflage zum Thema gemacht.
"Wenn man sich Sachsen anschaut, in die Städte fährt, in die Dörfer fährt, dann sagt man, Mensch, das ist doch toll geworden, das ist doch eine klasse Sache, und ich selber habe ja als Bürgermeisterin, ehemalige Bürgermeisterin Straßen, Schulen, alles, was es gibt, gebaut, aber da habe ich noch lange nicht die Köpfe der Menschen erreicht."
Petra Köpping, Sächs. Staatsministerin für Integration und Gleichberechtigung (SPD)
Konkret heißt das: es geht um gebrochene Biografien, um DDR-Lebensleistung, die im neuen System nicht anerkannt wird. Manche haben den Sprung in die soziale Marktwirtschaft trotz aller Anstrengung nicht geschafft. Dass schaffe Frust, sagt Köpping und fordert eine gründliche Aufarbeitung dieser Aufbaujahre.
Die SPD-Politikerin hat sich mit Ihrem Vorstoß nicht nur Freunde gemacht in der Dresdner schwarz-roten Koalitionsregierung. Michael Kretschmer ist 42 Jahre alt, sächsischer CDU-Generalsekretär und stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Die Theorien Köppings teilt er nicht.
"Die Geschichte der letzten 27 Jahre ist ja auch meine Geschichte, mit allem, was hier passiert ist, mit Arbeitslosigkeit, der eigenen Eltern, , mit der Suche bei mir selbst mit einem Ausbildungsplatz und 30, 40 50 Bewerbungen damals in den 90-iger Jahren, ohne eine Antwort zu bekommen, , und jetzt , eben der Aufstieg, das Tal der Tränen ist durchschritten, jetzt können wir zurückschauen und sagen, was haben wir gemeinsam erreicht."
Michael Kretschmer, CDU-Generalsekretär Sachsen und stv. CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag
Der Wahlkampf 2017 sei dennoch hart, räumt Kretschmer ein und er glaubt, dass wir einen so politischen Wahlkampf wie diesen lange nicht mehr gehabt haben.
Wahlserie: Was bewegt Deutschland?
"Was bewegt Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl? Um diese Frage ein Stück weit beantworten zu können, haben sich fünf Kolleginnen in ihre Heimatorte aufgemacht, haben mit den Menschen dort gesprochen, um herauszufinden, was ihnen auf den Nägeln brennt.
Probleme im reichen Oberbayern? Unterwegs in Rosenheim. Von Lisa Weiß
Wenn die Lichter ausgehen. Die Angst der Bergmänner in Heringen. Von Andrea Herrmann
Nicht viel los – Radevormwald zwischen Heimatgefühl und Landflucht. Von Nina Landhofer
Im Herzen Europas. Saarlouis und Dillingen brauchen offene Grenzen. Von Sissi Pitzer