Kanzler, Krisenmanager, Welterklärer Helmut Schmidt ist gestorben
Ob Sturmflut, Ölkrise oder "Deutscher Herbst" - mit hanseatischer Nüchternheit managte Helmut Schmidt einige Krisen. Zuletzt fungierte er als Welterklärer und deutsches Gewissen. Heute Nachmittag ist der Alt-Bundeskanzler im Alter von 96 Jahren gestorben.
Der Gesundheitszustand des früheren Bundeskanzlers hatte sich am Wochenende dramatisch verschlechtert. Schmidt war Anfang September wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden. Zwar konnte er nach gut zwei Wochen die Klinik wieder verlassen und wurde zu Hause weiter gepflegt. Die Hoffnung, dass er in seinem vertrauten Umfeld wieder zu Kräften kommen würde, erfüllte sich jedoch nicht. Heute starb er im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hamburg, wie das Nachrichtenportal "Zeit online" meldete.
Reaktionen aus Bayern auf den Tod Helmut Schmidts
Horst Seehofer, Bayerns Ministerpräsident
Horst Seehofer lobte die Verdienste des SPD-Politikers im Kampf gegen den Terrorismus und für die europäische Idee. Schmidt habe als Kanzler die Bundesrepublik sicher durch die schwierige Zeit des Terrorismus der RAF ("Rote Armee Fraktion") und des Kalten Krieges geführt, sagte der CSU-Chef. "Souveränes Krisenmanagement und überzeugter Einsatz für die deutsch-französische Freundschaft sowie die europäische Einigung werden auf immer mit seinem Namen verbunden bleiben", sagte Seehofer. "Ich verneige mich vor der Lebensleistung von Helmut Schmidt, einem Hanseaten, der Bayern in Sympathie verbunden war."
Barbara Stamm, bayerische Landtagspräsidentin
"Helmut Schmidt war eine Autorität. Mit ihm verliert unser Land einen Mann, der zu führen verstand, der als Kanzler Maßstäbe setzte und dessen Wort bis zuletzt Gewicht hatte. Helmut Schmidt setzte auf eine Vernunft, deren Fundament die Verantwortungsethik ist: nüchtern in der Einschätzung der verfügbaren Mittel und von der Notwendigkeit pragmatischer Schritte zutiefst überzeugt.Bei allen Entscheidungen – darunter auch schwerste persönliche – schien er sich eine grundlegende Orientierung abzuverlangen. Sein Mut, seine Disziplin und sein Pflichtgefühl waren stets spürbar. Über alle Parteigrenzen hinweg genoss er höchsten Respekt und Anerkennung. Unser Land verdankt ihm unendlich viel. Der Bayerische Landtag und ich persönlich werden Helmut Schmidt ein ehrendes Gedenken bewahren."
Christian Ude, ehemaliger Münchner Oberbürgermeister
Christian Ude hat den Tod von Helmut Schmidt als "unersetzlichen Verlust" bezeichnet. Dem Bayerischen Rundfunk sagte Ude, "Helmut Schmidt ist, wie Egon Bahr eine der ganz, ganz wichtigen, Generationen prägenden Persönlichkeiten, die jetzt von Bord gegangen sind". Schmidt sei wegen seiner Kompetenz, Entscheidungsfreude und Geradlinigkeit ein großes Vorbild für ihn gewesen und habe ihn intellektuell wie politisch geprägt. Als Bundeskanzler habe Schmidt ein "unglaubliches Format" gehabt. Er habe weltweit Respekt und Achtung genossen und habe dies auch später als Publizist und politischer Ratgeber in Anspruch nehmen können. Helmut Schmid sei "in der Tat einer der ganz großen Deutschen, der großen Europäer und großen Sozialdemokraten gewesen."
Reinhard Marx, Kardinal und Münchner Erzbischof
Reinhard Marx, würdigte Helmut Schmidt als "einen Politiker mit Weitblick und Klugheit und einen überzeugten Europäer". "In dieser Stunde des Abschieds verneigen wir uns vor einem Bundeskanzler, der dem Glauben und der Religion mit Sympathie und Respekt begegnete. Wir sind dankbar für einen großen Staatsmann und werden an den Verstorbenen und seine Familienangehörigen im Gebet denken."
Heinrich Bedford-Strohm, evangelischer Landesbischof
Heinrich Bedford-Strohm, bezeichnete Schmidt als "großen Denker und einen kritischen Mahner". "Über seine Zeit als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und sein politisches Wirken hinaus hatten sein Wort und seine Stimme großes Gewicht in unserer Gesellschaft und in unserem Land." Schmidt sei seiner Kirche treu und zugleich kritisch verbunden gewesen.
Hildegard Hamm-Brücher, frühere FDP-Politikerin
"Ich habe heute mein größtes Vorbild verloren. Ich habe Helmut Schmidt ungeheuer schätzen und bewundern gelernt. Wir sind richtig Freunde geworden. In politischen Fragen hatte ich mit ihm eine so große Übereinstimmung wie mit keinem anderen Menschen in meiner Zeit. Er war ein wunderbarer Menschen. Wir haben auch nach unserer aktiven politischen Zeit immer wieder Kontakt gehalten."
Ludwig Stiegler, Ex-SPD-Fraktionschef
Der frühere Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und ehemalige bayerische SPD-Chef Ludwig Stiegler aus Weiden würdigte Helmut Schmidt als "tatkräftig, rhetorisch stark und zuverlässig". Der 71-jährige Stiegler sagte dem Bayerischen Rundfunk, er habe mit dem damaligen Bundeskanzler viel für die Oberpfalz tun können. Dazu zähle etwa der Erhalt der Grenzlandförderung. Stiegler erzählte, dass er Schmidt noch im vergangenen Dezember besucht habe und von ihm "wie ein Schulbub examiniert worden" sei. Er bekannte sich dazu, 1964 aus Bewunderung für Schmidt in die SPD eingetreten zu sein und als Bildschirmschoner auf seinem Computer ein Bild von Helmut Schmidt zu haben.
Ostbayerische Bürgermeister
Regensburgs Oberbürgermeister Joachim Wolbergs würdigte Helmut Schmidt im BR-Interview als großen Politiker mit eigenen Überzeugungen. Schmidt sei ein "ganz, ganz großer dieses Landes" gewesen so Wolbergs. Ein Politiker mit Ecken und Kanten wie Helmut Schmidt werde fehlen. Er habe stets begrüßt, dass sich Schmidt auch noch in den letzten Jahren mahnend zu Wort gemeldet habe. Schmidt sei ihm dabei ein Vorbild gewesen. Weidens Oberbürgermeister Kurt Seggewiß lobte Helmut Schmidt als geradlinigen, pragmatischen und klugen Politiker. Man müsse lange suchen, um Politiker eines solchen Formats zu finden, so Seggewiß.
Albert Schmid, ehemaliger Fraktionsvorsitzende der Bayern-SPD
Albert Schmid, hat im BR-Interview sein Bedauern über den Tod von Helmut Schmidt zum Ausdruck gebracht. Die letzte Vaterfigur sei nun verstummt. Der Altkanzler sei ein pragmatischer Mann gewesen, dem es stets darum ging, dass sein Handeln einem sittlichen Anspruch genüge. Während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt war Albert Schmid Staatssekretär des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Während dieser Zeit habe er ihn als harten Chef erlebt, der dabei seinen Mitarbeitern gegenüber nie verletzend aufgetreten sei. Geschätzt habe er das große Interesse des Altkanzlers an Diskussionen über griechische Philosophie oder die Rolle der katholischen Kirche.
Geradezu arbeitswütig
Kanzler und Krisenmanager, Politiker und Publizist, Kunst- und Musikliebhaber - Helmut Schmidt hatte viele Facetten. Seine Worte fanden auch - oder gerade - im hohen Alter große Aufmerksamkeit. Besonders zu wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen. Regelmäßig brachte sich der Altkanzler aktiv in die Politik und das Zeitgeschehen ein.
Im Herbst 2013 sagte der am 23. Dezember 1918 in Hamburg geborene Schmidt: "Ich werde nun bald 95 Jahre und hätte eigentlich längst meinen Schnabel halten sollen." Wirklich zurückgehalten hat er sich jedoch Zeit seines Lebens nicht. Als unnachgiebiger Krisenmanager galt er während seiner Amtszeit, später wurde er zum Welterklärer, der sich - kettenrauchend - in jeder TV-Sendung wohlfühlte und als gern gesehener Experte zu jedem Thema kompetent Antworten lieferte. Fleißig, belastbar, gründlich, gewissenhaft, ordentlich, routiniert, stets gut vorbereitet, manchmal geradezu arbeitswütig sind Adjektive, die dem scharfen Denker nachgesagt wurden.
Berufswunsch Architekt
Doch es hätte auch anders kommen können: Ursprünglich wollte Helmut Heinrich Waldemar Schmidt Städtebauer oder Architekt werden. Doch der Zweite Weltkrieg machte diese Pläne zunichte. Nach Einsätzen an der Ost- und Westfront kam er in britische Kriegsgefangenschaft. Danach studierte er Staatswissenschaften und Volkswirtschaft. Schmidt engagierte sich schon früh politisch, 1946 wurde er Mitglied der SPD. Noch während des Krieges heiratete der gebürtige Hamburger die Lehrerin Hannelore "Loki" Glaser, mit der er schon seit der Schulzeit befreundet war.
Der Hamburger Innensenator und die Sturmflut
Bundesweit bekannt wurde Schmidt während der Hochwasserkatastrophe 1962 in Hamburg, bei der mehr als 300 Menschen starben. Er war damals Innensenator in der Hansestadt. Ohne bürokratische Umwege koordinierte er den Großeinsatz von Rettungsdiensten sowie Katastrophenschutz und verhinderte so noch Schlimmeres. Sein energisches und umsichtiges Eingreifen brachte ihm Popularität bei den Deutschen ein. Sein pragmatisches Krisenmanagement sollte er auch später unter Beweis stellen müssen. Doch zunächst empfahl er sich durch sein umsichtiges Handeln für höhere Aufgaben - und er machte Karriere in der SPD.
1969 wurde Schmidt Verteidigungsminister im ersten SPD/FDP-Kabinett von Willy Brandt. Er stieg auf zum zweiten Mann in der Regierung und übernahm 1972 das Bundesfinanzministerium. Die Affäre um den DDR-Spitzel Günter Guillaume im Bundeskanzleramt führte im Mai 1974 zum Rücktritt Brandts. Am 16. Mai 1974 wurde Schmidt zum fünften Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."
Legendäres Schmidt-Zitat, angeblich an die Adresse von Willy Brandt gerichtet
Seine erste Amtszeit stand im Zeichen der Ölkrise und der weltweiten Wirtschaftsrezession. Hier erwarb sich der studierte Ökonom für seine Stabilitätspolitik allgemein Anerkennung. Die britische "Financial Times" erklärte Schmidt damals zum "Mann des Jahres".
"Deutscher Herbst" und Entführung der "Landshut"
1977, während seiner zweiten Amtszeit, kam ihm erneut sein Geschick als Krisenmanager und nüchterner Entscheider zugute. In Deutschland herrschte eine angespannte Situation: Der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Bankier Jürgen Ponto wurden von Terroristen der "Rote Armee Fraktion" (RAF) ermordet. Der Terror eskalierte mit der Entführung und späteren Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der parallel stattfindenden Entführung der in Palma de Mallorca gestarteten Lufthansa-Maschine "Landshut" nach Mogadischu.
Kurz darauf nahmen sich die RAF-Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim das Leben. Ein Gefühl von Unsicherheit und Machtlosigkeit lastete damals über Deutschland. Die Bundesregierung entschied hart und unnachgiebig: Zugeständnisse und Austausch-Aktionen schloss sie klar aus. Dafür erntete Schmidt auch viel Kritik.
Letztendlich übernahm er die politische Verantwortung für den nicht verhinderten Tod Schleyers, der Opfer der "Staatsraison" geworden war. Ein Erfolg war dagegen die Befreiung der Geislen an Bord der entführten "Landshut".
Zunehmende Kritik und Sturz durch Misstrauensvotum
Trotz seiner Erfolge bekam Schmidt in seiner dritten Amtszeit als Kanzler ab 1980 immer mehr Gegenwind, vor allem aus der eignen Partei, aber auch aus der SPD/FDP-Koalition. Diskussionen gab es vor allem bei der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Schmidt trug maßgeblich zum Zustandekommen des NATO-Doppelbeschlusses bei und brachte damit die Nachrüstungsgegner gegen sich auf.
Auch SPD-Chef Willy Brandt ging zu jener Zeit zunehmend auf Distanz zu Schmidt. Im Mai 1981 drohte Schmidt mit Rücktritt, im Februar 1982 stellte er die Vertrauensfrage - und gewann sie. Doch wenig später stellten sich die Liberalen gegen Schmidt. Im Oktober 1982 kam es zu einem Misstrauensvotum. Diesmal verlor Schmidt, die Regierung zerbrach. Neuer Kanzler wurde Helmut Kohl.
"Staatsmann", "nationale Ikone", "moralische Autorität"
Doch auch nach seiner aktiven Zeit blieb Schmidt politisch engagiert. Vielmehr: Er entwickelte sich zum Experten auf diversen Gebieten, wurde 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit" und erwarb sich Anerkennung als Autor und Publizist. In zahlreichen Veröffentlichungen wurde er als "nationale Ikone", "Staatsmann" und "moralische Autorität" tituliert. Bereits während seiner politisch aktiven Zeit erhielt er den Spitznamen "Schmidt Schnauze" - seinem Redetalent geschuldet. Der Altkanzler vertrat bis zum Schluss durchaus auch unpopuläre Meinungen. So befürwortete der Kettenraucher die friedliche Nutzung von Kernenergie, nannte die multikulturelle Gesellschaft eine "Illusion von Intellektuellen" und die Debatte um die globale Erwärmung "Hysterie".
Im Oktober 2010 starb seine Frau Loki, mit der er seit 1942 verheiratet war. Es passte zum arbeitswütigen Schmidt, dass er in der Nacht ihres Todes nicht da war: Er hielt in Berlin einen Vortrag anlässlich des 25. Jubiläums des japanisch-deutschen Zentrums. Nachher lag es ihm nach eigenen Aussagen schwer auf der Seele, dass er abwesend war. Dennoch: Er stürzte sich weiter in seine Arbeit, engagierte sich in Interviews, plante Reisen - auch wenn er die letzten Jahre im Rollstuhl saß.
Liebe zur Musik
Ein besonderes Verhältnis pflegte Schmidt zur Musik. So hatte er beispielsweise als Bundesverteidigungsminister die Big Band der Bundeswehr ins Leben gerufen. Schmidt selbst spielte Orgel und Klavier und schätzte insbesondere die Musik von Johann Sebastian Bach. Zuletzt litt er darunter, wegen seines nachlassenden Gehörs Musik nicht mehr richtig genießen zu können.